Geflüchtete am UNHCR-UNICEF-Stützpunkt am Grenzübergang in Medyka in Südpolen
Seit Kriegsbeginn kamen 1,5 Millionen Menschen aus der Ukraine nach Polen. Bildrechte: picture alliance/dpa/BELGA | Nicolas Maeterlinck

Ukraine-Krieg Polen: Stimmungsmache gegen ukrainische Flüchtlinge

14. Dezember 2022, 04:57 Uhr

Polen hat europaweit die meisten ukrainischen Geflüchteten aufgenommen. Vor allem zu Kriegsbeginn gab es landesweit ungeheuer viel Solidarität. Doch nun machen sich Ermüdung, Unmut und sogar Hass breit, begleitet von einer Welle von Fakenews über die "undankbaren Ukrainer".

MDR AKTUELL Mitarbeiter Cezary Mariusz Bazydlo
Bildrechte: MDR/punctum.Fotografie/Alexander Schmidt

In den ersten Wochen nach Kriegsbeginn schien die Liebe zwischen Polen und Ukrainern grenzenlos. Polen wurde von einer Welle spontaner Hilfsbereitschaft ergriffen: Sachspenden stapelten sich in den Lagerhallen, Freiwillige versorgten geflüchtete Ukrainer mit Essen und Trinken, viele Bürger nahmen Ukrainer bei sich zu Hause auf. Es war eine nationale Kraftanstrengung "von unten" ohne staatliche Lenkung – Zivilgesellschaft und Nächstenliebe pur. Mit 1,5 Millionen Menschen hat Polen laut UNHCR auch die meisten ukrainischen Kriegsflüchtlinge unter den EU-Ländern aufgenommen.

Anzahl ukrainischer Kriegsflüchtlinge in ausgewählten EU-Ländern

Polen: 1.521.085, Deutschland: 1.021.667, Tschechien: 464.701. Gemessen an der Einwohnerzahl hat Tschechien die meisten ukrainischen Geflüchteten aufgenommen. Quelle: UNHCR

Solidarität nimmt ab

Doch inzwischen sind die "Flitterwochen" vorbei. Ermüdung, Unmut und sogar Hass machen sich breit, begleitet von einer Welle von Fakenews über die "undankbaren Ukrainer". Zwar sieht die Lage in Umfragen noch gut aus: Die Zustimmung zur Aufnahme ukrainischer Schutzsuchender ist nur moderat gesunken – von 88 Prozent Anfang März 2022 auf derzeit 71 Prozent.

Hinter dieser Fassade aber bröckelt es, berichtet Przemysław Sadura von der Universität Warschau im Gespräch mit dem MDR. Der Soziologe ist Co-Autor einer Studie, die das enthüllt, was die Polen denken und sagen, wenn sie "unter sich" sind.

Die klassische Umfrage wird als eine quasi offizielle Situation wahrgenommen. Politische Korrektheit bewegt die Menschen deshalb dazu, mit 'ja' oder 'eher ja' zu antworten. Missgunst und Skepsis gegenüber Flüchtlingen sind in solchen Umfragen tendenziell unterrepräsentiert.

Prof. Przemysław Sadura, Universität Warschau

Saduras Studie wurde anders erstellt, die Menschen wurden in Gruppen befragt, die eine Eigendynamik entwickelten. "In allen Gruppen tauchte das Thema Flüchtlinge spontan auf, noch bevor wir mit der Befragung starteten. Irgendjemand warf eine missgünstige Bemerkung ein, die anderen sahen, dass der Moderator das nicht unterbindet, nicht sagt 'Schämen Sie sich, so darf man nicht reden!', sondern nur nachhakte: 'Meinen Sie das wirklich?' Daraufhin begannen sie, frei von der Leber weg zu reden."

Polen meinen: Ukrainer werden bevorzugt

Das Ergebnis: In allen sozialen Schichten gibt es starke negative Gefühle gegenüber Ukrainern, unabhängig vom Alter, Geschlecht, Wohnort oder Bildungsstand. Die meisten Befragten sind überzeugt, dass Ukrainer besser als Polen behandelt werden und außerdem zu hohe Ansprüche stellen. Für Unmut sorgt beispielsweise, dass sie dieselbe Sozialhilfe wie polnische Bürger bekommen. Ein weiterer Vorwurf: Ukrainer kämen leichter an Arzttermine und Kitaplätze, während Polen oft leer ausgingen. Hinter diesem Stimmungswandel stecken Ängste und Sorgen, weiß Sadura.

Die Polen haben Ukrainern in den ersten Monaten nach Kriegsbeginn sehr bereitwillig geholfen. Doch jetzt stellen sich bei ihnen Zweifel ein, ob Polen eine so hohe Flüchtlingszahl ohne Absenkung des Lebensstandards und ohne Zusammenbruch des polnischen Wohlfahrtsstaats verkraften kann.

Prof. Przemysław Sadura, Soziologe

Angefacht werden die Ängste durch die schlechte Wirtschaftslage. Im Oktober lag die Inflation in Polen mit 17,9 Prozent fast doppelt so hoch wie in Deutschland. Bei Lebensmitteln fiel die Teuerung teilweise noch deutlich höher aus – für Aufsehen sorgten zum Beispiel Berichte über massenhafte Butterdiebstähle in den Supermärkten. Viele Familien sehen einem schwierigen Winter entgegen, da es im "Kohleland Polen" einen akuten Kohlemangel gibt: Die Preise sind regelrecht explodiert, wenn es "das schwarze Gold" überhaupt mal zu kaufen gibt. Wer mit Gas heizt, ist zumindest preislich kaum besser dran.

In diesen schweren Zeiten haben viele der Befragten – vor allem aus den unteren, verhältnismäßig schlecht qualifizierten Schichten – Angst, die Ukrainer würden ihnen die Arbeit wegnehmen. Tatsächlich gehen mehr als 400.000 geflüchtete Ukrainer in Polen schon arbeiten – Experten zufolge könnte der Arbeitsmarkt allerdings noch einmal so viele aufnehmen. Auch die polnische Mittelschicht hat Angst. Hier ist es die Furcht vor dem sozialen Abstieg. Viele Familien zahlen beispielsweise Immobilienkredite ab, die ihr Budget in Inflationszeiten außerordentlich belasten. Da die Zinssätze in Polen vierteljährlich angepasst werden und eine Zinsbindung wie in Deutschland unüblich ist, haben sich ihre Kreditraten innerhalb nur eines Jahres mehr als verdoppelt.

Meinungsmache gegen Ukrainer

Die wachsende Missgunst gegenüber Ukrainern ist aber auch das Ergebnis gezielter Desinformation, glauben die Autoren der Studie. Zum einen seitens der polnischen Regierung und regierungsnaher Medien: Der Ukraine-Krieg müsse als Erklärung – man könnte auch sagen Ausrede – für alle ökonomischen Probleme des Landes herhalten. Dabei stimme das nur zum Teil. Die Inflation beispielsweise lag schon im letzten Friedensmonat, im Januar 2022, bei 9,2 Prozent.

Zum anderen sprechen einige Anzeichen dafür, dass auch Internettrolle im russischen Auftrag unterwegs sind. Zu Kriegsbeginn wurden Fakenews über Ukrainer beispielsweise von Instagram-Kanälen verbreitet, die offizielle Auftritte mehrerer polnischer Großstädte nachahmten, um glaubwürdiger zu wirken.

Fakt ist, dass Gerüchte und Fakenews über die Schutzsuchenden in Polen allgegenwärtig sind. Das zentrale Motiv sind dabei "privilegierte, undankbare und fordernde Ukrainer", die nicht nur staatliche Hilfen in Anspruch nehmen, sondern auch ungeniert eine kostenlose Bedienung im Nagelstudio, beim Friseur und ähnlichen privaten Dienstleistungsbetrieben einfordern. Fast immer handelt es sich der Studie zufolge aber nicht um eigene Erlebnisse der Befragten, sondern um Wissen aus zweiter Hand – gehört "von einer Bekannten", "vom Nachbarn", "von meiner Frisörin".

Welche Vorurteile gegenüber Ukrainern gibt es in Polen?

Originalzitate aus Saduras Befragungen:

  • "Die Medien neigen dazu, viele Dinge nicht zu zeigen. Sie zeigen immer nur, dass die Ukrainer benachteiligt sind und dass man ihnen helfen muss."
  • "Seit sie (Ukrainer, Anm. d. Red.) hier angekommen sind, ist hier einiges schief gelaufen."
  • "Hier wird ihnen alles vorgesetzt. Und wenn etwas fehlt, dann erstreiten sie es sich."
  • "Für uns (Polen, Anm. d. Red.) gibt es keine Termine beim Arzt. Für sie (Ukrainer, Anm. d. Red.) ist immer ein freier verfügbar.
  • "Wenn Ukrainer zunächst von Sozialhilfe leben müssen, dann sollten wenigstens die Polen als erstes davon profitieren."

Mehrere dieser Geschichten wurden von Aktivisten inzwischen als Fakenews widerlegt und dennoch verbreiten sie sich weiter sehr hartnäckig. Dabei sind solche Meinungen Sadura zufolge alles andere als harmlos, weil sie den sozialen Frieden gefährden. Der Soziologe sieht hier Parallelen zu Deutschland und Großbritannien.

Die zunehmende Missgunst gegenüber Migranten aus Mittel- und Osteuropa wurde in Großbritannien aufgrund von politischer Korrektheit nicht artikuliert und trug zur Mobilisierung der Brexit-Anhänger bei. Ähnlich verhielt es sich in Deutschland. Dort versuchte man, flüchtlingskritische Stimmen im öffentlichen Raum einzudämmen, was aber AfD-Anhänger mobilisiert hat.

Prof. Przemysław Sadura, Universität Warschau

Auch wenn momentan keine der großen Parteien die Vorbehalte gegen die Ukrainer als "politischen Treibstoff" für sich zu nutzen versuche, könnte sich das bald ändern, glaubt der Soziologe: "In privaten Gesprächen signalisieren Politiker, dass sie den Stimmungswandel in der Wählerschaft wahrnehmen, sich entsprechend anpassen und seltener ihre Unterstützung für Flüchtlinge zeigen." Keine politische Kraft in Polen werde zwar die generelle Unterstützung der Ukraine im Kampf gegen Russland in Frage stellen. Es könnten aber Vorschläge auftauchen, Geflüchteten den Zugang zu Sozialleistungen einzuschränken.

Lösung: Ins Gespräch kommen

Die Lösung des Problems laut Studienautoren: Politiker, Medien und Nichtregierungsorganisationen müssen über die Ängste und Sorgen der Bevölkerung offen sprechen und die Botschaft vermitteln, dass die Gesundheits-, Bildungs- und Schulsysteme die Flüchtlingswelle verkraften würden – und sollten sie doch hier und da versagen, müssten die wahren Verantwortlichen benannt werden, etwa der Bildungs- oder der Gesundheitsminister, und nicht die geflüchteten Ukrainer als Sündenböcke missbraucht werden. Es sei ein Fehler, die Ängste der Bevölkerung und die vielen Gerüchte über die Schutzsuchenden aus politischer Korrektheit oder weil man es gut meint zu verschweigen.

Diese Ängste und Sorgen werden nicht verschwinden, nur weil Mainstreammedien darüber schweigen. Die Menschen werden vielmehr den Eindruck haben, dass Mainstreammedien etwas zensieren und man wahre Informationen nur in den sozialen Medien finden kann. Dabei wissen wir doch genau, dass es dort Probleme mit unbestätigten Informationen und sogar regelrechte Desinformationskampagnen gibt.

Prof. Przemysław Sadura, Soziologe

Positiv stimmt Sadura dabei etwas, was auf den ersten Blick völlig paradox wirkt: Obwohl Ressentiments gegenüber Geflüchteten zunehmen, wird die Ukraine als Staat von den meisten Polen weiterhin unterstützt – fast alle drücken ihr im Kampf gegen Russland die Daumen. Diese ambivalente Haltung ist für Sadura völlig normal. "Wir haben das Recht, unterschiedliche Emotionen zu empfinden. Es sind dieselben Menschen, die zu Kriegsbeginn halfen und jetzt Angst haben. Es ist ein bisschen wie bei Eltern: Sie lieben ihre Kinder grenzenlos, sind aber manchmal furchtbar erschöpft. Ähnlich ist es hier: Nach monatelanger Hilfsbereitschaft können sich die Polen erschöpft fühlen."

Die Botschaft, die ihnen deshalb vermittelt werden müsse: Du darfst dir Sorgen machen – wegen der galoppierenden Inflation, steigenden Wohnkosten, langen Wartezeiten auf Arzttermine und fehlender Kitaplätze. Du darfst ermüdet sein – vom Krieg und vom Engagement in der Flüchtlingshilfe. Doch die schutzsuchenen Menschen sind weder schuld noch sind sie die eigentliche Gefahr. Denn in Wahrheit seien nicht die Ukrainer das Problem, sondern das fehlende Vertrauen der Bürger in den Staat und seine Einrichtungen.

(adg, usc)

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 19. November 2022 | 08:17 Uhr

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