Rezension "Gabriel" in Halle: Warum auch ein Stück über Queerness alt aussehen kann
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09. März 2024, 13:09 Uhr
Am Neuen Theater Halle feierte am Freitagabend das Stück "Gabriel" nach einem Roman von Georges Sand Premiere. Passend zum Frauentag, gilt die französische Schriftstellerin doch als Urfeministin: 1804 als Amantine-Aurore-Lucile Dupin geboren, wehrte sie sich früh gegen Geschlechterrollen. So stellt sie in "Gabriel" einen jungen Mann ins Zentrum, der eigentlich eine Frau ist. Alice Buddeberg holte den Roman aus dem Jahr 1839 auf die Bühne, ohne auf der Höhe unserer Zeit zu sein, wie unser Kritiker meint.
- Am Neuen Theater Halle feierte das Stück "Gabriel" nach einem Roman von Georges Sand, die Queerness schon im 19. Jahrhundert zum Thema machte, Premiere.
- Alice Buddebergs Inzenierung wird zum Verwirrspiel, das in einem 200 Jahre alten Text gefangen bleibt.
- So erlebt das Publikum weder historisches Drama noch zeitgenössisches Theater auf der Höhe der Zeit, lautet das Fazit unseres Kritikers.
"Gabriel" darf durchaus als Entdeckung gelten. Erst vor zwei Jahren erschien George Sands Dialogroman erstmals in deutscher Übersetzung. Es geht darin, kurz gesagt, um eine junge Frau, die aus gesellschaftlichen Gründen als junger Mann aufwachsen muss – sonst verliert ihr Familienzweig das Anrecht auf das Erbe.
Retro-Queerness zum Frauentag: Antiquiert und pathetisch
Dieser Gabriel erfährt irgendwann dann aber doch, dass er eigentlich eine Frau ist, und damit beginnen die Auseinandersetzungen mit der von Männern dominierten Welt um ihn bzw. sie herum, mit den herrschenden Geschlechterklischees. Im Programmzettel wird zudem vor allem betont, dass "Gabriel" und auch die Autorin George Sand selbst frühe Beispiele für das sind, was man heute Queerness nennt. Ein Thema, das gerade häufiger auf den Bühnen verhandelt wird. Kürzlich zum Beispiel in Magdeburg mit Kim de l' Horizons "Blutbuch", einer fulminanten Inszenierung, die soeben zum diesjährigen Festival "radikal jung" nach München eingeladen wurde.
In Alice Buddebergs Inszenierung von "Gabriel" hingegen wird man das Gefühl nicht los, dass George Sands Text nicht halten kann, was die Gegenwart von diesem Thema verlangt. Er wirkt doch etwas antiquiert, da jagen pathetische Sätze aus einem anderen Jahrhundert einander. Da wird "Liebe in deine Brust gepflanzt", da ist "die Seele Gewittern ausgesetzt", da wird "in Trunkenheit geliebt" und so weiter.
Ab und an ragt einer dieser Sätze aus der Monotonie heraus, aber man kann an dieser Inszenierung ziemlich gut erkennen, dass wir die historische Verkleidung, die George Sand im frühen 19. Jahrhundert für das Thema noch so dringend brauchte (sie verlegt die Handlung ins 17. Jahrhundert zurück), heute nun wirklich nicht mehr nötig haben. So schön und symbolschwer es also ist, diesen Text und diese Premiere auf den Frauentag zu legen, so gut gemeint die Idee, mit historischer Referenz ein wichtiges, aber leider immer noch "heikles" Thema zu bespielen, so theoretisch und fremd wirkt leider Vieles an diesem Text an diesem Abend.
Verwirrspiel auf der Bühne: "Es sommertheatert"
Es ist ein Abend mit Werkstattcharakter: Fünf Schauspielerinnen und Schauspieler sind in diversen, teilweise wechselnden Rollen und auch wechselnden Geschlechtern zu erleben. Man zieht sich auf der Bühne um, schiebt drei bewegliche Rampen umher – die Fünf spielen wirklich inbrünstig gegen die etwas staksigen Sand-Sätze an. Mal rennen sie wild umher, mal schwelgen sie mit Blicken und Gesten in der Anzüglichkeit ihrer Retro-Queerness und gelegentlich wird ein bisschen "sommertheatert".
Dann knallt ein echter Schuss, es wird in derbe Dialekte gewechselt, Klamauk betrieben. Am Ende wird sogar gefochten. Allein, es hilft nicht, die meiste Zeit wirken sie wie gefangen in einem fast 200 Jahre alten Text. Fast alles, was sie sagen, sagen sie bedeutungsschwanger. Die Handlung bleibt etwas wirr, und wenn Hagen Ritschel, der in fünf Rollen zu erleben ist, irgendwann ironisch andeutet, den Überblick verloren zu haben, wird im Saal dankbar gelacht.
"Meine Seele hat kein Geschlecht!"
Der wichtigste Satz aus George Sands Roman fällt bereits nach wenigen Minuten. Als ihr Großvater Gabriel mit der Wahrheit konfrontiert, dass er eigentlich eine Frau sei, sagt Gabriel: "Die Frau! Die Frau, ich weiß nicht, weshalb Sie mir immer von der Frau anfangen. Ich jedenfalls habe nicht das Gefühl, dass meine Seele ein Geschlecht hat, wie Sie es mir so oft beweisen wollen."
Gabriel ist längst schon freier als die Gesellschaft um sie herum, sie hat längst ihre Zweifel an den Rollenzuschreibungen, die ihr anerzogen werden. Das weiß man jetzt also und muss doch noch anderthalb Stunden lang diesem einen Gedanken weiter folgen, zumindest ahnend, dass Gabriels Geschichte, diese Geschichte einer sich emanzipierenden Frau, für sie nicht gut enden wird. Genau so kommt es dann auch.
Fazit: Diffuse Inszenierung, die selten inspiriert
Beeindruckend sind vor allem die Szenen, in denen Sybille Kreß (die unter anderem die Autorin George Sand spielt) singt, gefühlvoll und Ruhe und zumindest kurz so etwas wie Allgemeingültigkeit in den Abend einbringend. Eins heißt "Egal, wer du bist" und ist ein anrührendes Liebeslied – etwas mehr davon, mehr "Stimmung", mehr Metaphorik hätte dem Abend sicher nicht geschadet.
Man ist auch dieser Frau, Gabriel, nicht wirklich nahe gekommen. Wenn sie am Ende verzweifelt aufgibt, bereit ist zu zerstören, "was Männern gefallen soll" – ihren Körper, sich selbst! – ist das kein dramatischer Höhepunkt des Abends, was es hätte sein müssen, sondern nur noch eine weitere, eine letzte Zuspitzung des genannten Satzes.
Mein Fazit: Das ist eine diffuse Inszenierung, die weder ein historisches Drama noch eine moderne Version davon ist, kein Gedanken-Fest und keins für die Augen.
Quelle: MDR KULTUR, Redaktionelle Bearbeitung: ks
Angaben zum Stück
neues theater Halle - nt-Kammer
Große Ulrichstraße 51
06108 Halle
"Gabriel"
von George Sand
Aus dem Französischen von Sébastien Jacobi
Regie: Alice Buddeberg
Bühne & Kostüme: Emilia Schmucker
Musik: Mirjam Beierle
Gabriel: Annemarie Hörold
Astolphe: Joshua Seelenbinder
Die Welt: Sybille Kreß
Die Welt: Hagen Ritschel
Die Welt: Rico Strempel
Premiere: 8. März 2024
Weitere Aufführungen (Auswahl)
22.03., 20 Uhr
23.03., 20 Uhr
24.03., 18 Uhr
31.03., 20 Uhr
12.04., 20 Uhr
13.04., 20 Uhr
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 09. März 2024 | 10:15 Uhr