Eine Frau schaut sich eine Ausstellung an.
Die Tik Tokerin Susanne Siegert recherchiert regelmäßig in Ausstellungen wie hier in Leipzig-Plagwitz zu NS-Verfolgten wie auch ihren Nachkommen. Bildrechte: MDR/Philipp Brendel

Geschichte im Netz TikTokerin aus Leipzig erinnert an NS-Opfer und erreicht damit Hunderttausende

20. September 2023, 18:00 Uhr

Susanne Siegert aus Leipzig versucht über das Videoportal TikTok junge Menschen über die Grausamkeit des Holocaust zu informieren. Sie will auf die Fragen Antworten geben, die ihr früher in ihrer Schulzeit unbeantwortet blieben. Dazu spürt sie Erinnerungsorte und Zeitzeugen in ganz Sachsen auf. Eine sehr bewegende Begegnung: das Gespräch mit einem der letzten NS-Opfer jüdischer Herkunft aus Sachsen.

Susanne Siegert steht vor einer Tafel, die an Schicksale von Holocaust-Überlebenden erinnert. Sie ist in einem Café inmitten eines Gewerbegebietes von Leipzig-Plagwitz. Dort wird frischer Kaffee ausgeschenkt.

Auf dem ersten Blick ist das ein ungewöhnlicher Ort, um über die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung im Nationalsozialismus und den Holocaust zu erinnern. Doch Susanne ist nicht ohne Grund hier. In den umliegenden Fabriken mussten vor 80 Jahren auch Zwangsarbeiter schuften, informieren die Cafébetreiber. Eine ganze Ausstellung im Café "Hamakom" erinnert an diese Zeit.

Menschen sitzen in einem Cafe mit einer Ausstellung.
An das Café "Hamakom" in der Markranstädter Straße in Leipzig-Plagwitz schließt eine Ausstellung an, die über das Schicksal der jüdischen Bevölkerung in der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland erinnert. Bildrechte: MDR/Philipp Brendel

Die 31 Jahre alte Wahlleipzigerin teilt Videos über ihren Kanal auf der Internetplattform TikTok, in denen sie über die Verfolgung und Deportation der jüdischen Bevölkerung in der NS-Zeit informiert. Sie liest Berichte aus Originaldokumenten vor und zeigt, wie Juden verfolgt, erniedrigt und deportiert wurden. Sie zitiert aus Schriftstücken, nachdem die Konzentrationslager wie Auschwitz oder Flossenbrück geräumt wurden.

Die Social-Media-Plattform TikTok erreicht ein sehr junges Publikum von größtenteils unter 25-Jährigen. Die meisten Videos dort sind eher lustig und unterhaltsam. Wie ist Susanne Siegert darauf gekommen, das komplexe Thema des Holocaust auf TikTok zu thematisieren?

Hunderttausende Aufrufe zu NS-Opfern

Susanne Siegert ist in Altötting in Oberbayern aufgewachsen. Erst nach ihrer Schulzeit habe sie erfahren, dass es in unmittelbarer Nähe eines der größten Außenlager des Konzentrationslagers Dachau gab, erzählt sie. "In meiner Region war das wenig bekannt", erinnert sich Siegert. Sie recherchiert damals zu dem Lager.

Ein Konzentrationslager ganz in der Nähe meiner Heimat? Siegert habe es erst nicht fassen können. Sie fragt sich, warum das Thema so wenig regional bekannt ist und sie nichts in der Schule davon gehört hat. "Was ich über das Lager herausgefunden habe, habe ich dann online geteilt", sagt sie.

Eine Frau steh in einer Ausstellung und schaut in die Kamera.
Susanne Siegert will das Schicksal von NS-Verfolgten bekannter machen. Denn oft bleibe dafür keine Zeit im Unterricht, sagt die 31-Jährige. Bildrechte: MDR/Philipp Brendel

So viele Leute schreiben mir und bedanken sich, dass sie etwas Neues gelernt haben. Ich habe das Gefühl, dass da sehr viel Wissensdurst ist.

Susanne Siegert infomiert bei Tik Tok über den Holocaust

Danach beginnt sie umfassender zu recherchieren. Sie liest in Archiven, tauscht sich mit Historikerinnen und Historikern aus und informiert etwa über die Schicksale von jüdischen NS-Opfern - erst auf Instagram, dann auf TikTok. Mittlerweile haben ihre Videos bis zu Hunderttausend Aufrufe. Doch das sei nicht entscheidend, sagt Susanne: "Viel wertvoller ist der Austausch. So viele Leute schreiben mir und bedanken sich, dass sie etwas Neues gelernt haben. Ich habe das Gefühl, dass da sehr viel Wissensdurst ist."

Holocaust-Leugner: Kommentare angezeigt

Gerade Schüler meldeten sich bei ihr: "Ich bin erstaunt, wie viele Fragen sie haben. Das kann ich aber gut verstehen. Im Unterricht stellt man die Fragen nicht, weil man sich vielleicht schämt - beispielsweise, was in Gaskammern tatsächlich passiert ist."

Schwierig werde es, wenn Kommentare von TikTok-Nutzenden den Holocaust verharmlosen oder leugnen. "Es gab schon strafbare Aussagen, dass etwa der Holocaust ein 'Mythos' sei oder viel weniger Menschen dabei gestorben seien", erklärt Siegert. Einige strafbare Kommentare habe sie schon zur Anzeige gebracht.

Eine Ausstellung zum Thema Nationalsozialismus.
In vielen Familien hat die Zeit des Nationalsozialismus Opfer hinterlassen. An einige Familienschicksale erinnert der Erinnerungsort in der Markranstädter Straße. Bildrechte: MDR/Philipp Brendel

Geschichte in 90 Sekunden erklären?

Kritik habe es auch von gestandenen Historikern gegeben, sagt Siegert. Sie könne die kritischen Stimmen unter Historikern nachvollziehen, die sagen, man könne das Thema Verfolgung und Deportation nicht in einem Video von 90 Sekunden bei TikTok abbilden. "Aber das ist auch in keinem Sammelband, keiner Unterrichtsstunde oder Dokumentation möglich. Ist es nicht besser, Menschen ein bisschen zum Nachdenken anzuregen, als gar nicht?"

Ist es nicht besser, Menschen ein bisschen zum Nachdenken anzuregen, als gar nicht?

Susanne Siegert erklärt die Verfolgung der Juden in der NS-Zeit in Kurzvideos

Erinnerungsorte in Leipzig entdeckt

Wie auch in ihrem bayerischen Heimatort hat Siegert auch in Leipzig Orte entdeckt, deren Geschichte sie sprachlos werden lässt. Ihr Ansatz ist dann, das Schweigen zu brechen. Bei einem Rundgang der Gedenkstätte für Zwangsarbeit etwa hört sie davon, dass Verfolgte im Westwerk in Leipzig-Lindenau zur Arbeit gezwungen wurden.

"Das sind Orte, die heute so fest zum Alltag gehören und wo man sonst abhängt. Früher waren das Orte, wo Menschen zur Arbeit hin verschleppt wurden", sagt sie und fügt hinzu: "Wir denken uns gar nichts mehr dabei. Aber, dass man da nochmal kurz drüber stolpert, finde ich wichtig."

Stolperstein auf einer Straße.
Stolpersteine wie dieser in der Zschocherschen Straße in Leipzig-Plagwitz erinnern an in der NS-Zeit ermordete Verfolgte. Bildrechte: MDR/Philipp Brendel

Eine der letzten überlebenden Verfolgten interviewt

Nicht nur in Rundgängen oder in Ausstellungen, sondern auch über Zeitzeugen versucht Susanne Siegert mehr über die NS-Zeit zu erfahren und zu vermitteln. Ein besonders eingängiges Interview habe sie mit Renate Aris aus Chemnitz geführt. Die 88-Jährige ist eine der letzten überlebenden Verfolgten jüdischer Herkunft aus der NS-Zeit in Sachsen. Im Februar 1945 sollte sie als Zehnjährige ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert werden, erzählte Renate Aris der TikTokerin im Interview.

Eine ältere Dame schaut auf zwei Postkarten. 23 min
Bildrechte: MDR / Renate Aris
23 min

Sa 28.01.2023 10:02Uhr 23:23 min

https://www.mdr.de/nachrichten/sachsen/video-zeitzeugin-holocaust-nationalsozialismus-100.html

Rechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Video

Durch die Bombardierung Dresdens habe es keine Deportation gegeben, habe Aris ihr gesagt. Aris habe mit ihrem Bruder fliehen können, ihre Großmutter sei jedoch in Riga erschossen worden. "Es ist die Geschichte von zwei Kindern, die in Dresden über Leichenberge in einer brennenden Stadt flüchten mussten", schildert Siegert, was Renate Aris ihr erzählte.

Vor dem Interview sei Siegert sehr aufgeregt gewesen: "Ich wollte keine falschen Fragen stellen oder ein Trauma triggern." Doch Renate Aris habe sie herzlich aufgenommen. Dennoch sei es außergewöhnlich gewesen: "Man beschäftigt sich sonst jeden Tag mit dem Thema in Form von Dokumenten. Und dann sitzt jemand vor dir, der dir den eigenen 'Judenstern' zeigt."

Das Thema Verfolgung, Deportation und Holocaust werde viel zu wenig im Unterricht behandelt, hat Aris im Gespräch mit der 31-Jährigen immer wieder angemahnt. "Viele Menschen kennen gar keine jüdischen Personen. Aber es würde vielen guttun, weil Juden Teil unserer Gesellschaft sind", sagte die 88-Jährige zu ihr.

Ich habe mich geschämt, dass sie sich als Opfer noch so engagieren muss. Warum kommt das nicht von uns von innen heraus, fragte ich mich?

Susanne Siegert TikTokerin

Als Renate Aris der TikTokerin erzählt, dass sie auch als 88-Jährige nicht müde werde, als Zeitzeugin die Erinnerung an die NS-Zeit aufrechtzuerhalten, habe Susanne Siegert ein bedrückendes Gefühl gehabt: "Ich habe mich geschämt, dass sie sich als Opfer noch so engagieren muss. Warum kommt das nicht von uns von innen heraus, fragte ich mich?" Zu Gedenktagen würden große Reden gehalten. "Doch wenn es konkret ums Erinnern geht, passiert sehr wenig", findet Susanne.

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN | MDR SACHSENSPIEGEL | 19. September 2023 | 19:00 Uhr

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