Zwei Frauen in einem Wintergarten mit Ordnern.
Viola Worsch (links) und Diana Hennig arbeiten seit Jahren daran, Betroffenen zu helfen. Bildrechte: MDR/Grit Hasselmann

Betroffene berichten Gewalt gegen Frauen: Warum in Thüringen oft die Opfer bezahlen

25. November 2022, 19:45 Uhr

In Thüringen sind in den vergangenen sieben Jahren insgesamt 49 Frauen von ihren Partnern oder Ex-Partnern getötet worden. Schätzungen besagen, dass in Thüringen jährlich zwischen 1.780 und 2.400 Frauen Opfer von Gewalt werden. Viola Worsch und Diana Hennig setzen sich in Thüringen für diese Frauen ein. Die eine, weil sie das selbst erleben musste, die andere für den "Weißen Ring".

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Keine korrekten Zahlen, zu wenig Hilfsangebote und zu viele Vorurteile - so fasst Diana Hennig die Situation in Thüringen zusammen, wenn es um Gewalt gegen Frauen geht. "Dazu kommt, dass die Frauen von Polizei und Justiz oft nicht ernstgenommen werden, bevor es zu spät ist." Sie hat das alles selbst erlebt.

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Warum sich so wenig Frauen wehren? Diana Hennig ist selbst betroffen und spricht darüber, wie Klischees zustande kommen und warum sie so hartnäckig sind.

MDR FERNSEHEN Do 24.11.2022 19:15Uhr 01:57 min

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Seit 2014 wehrt sie sich gegen ihren Ex-Partner und muss seitdem immer wieder die Erfahrung machen, dass das System in diesem Punkt offenbar nicht funktioniert: "Ich habe mich nach den ersten zwei Übergriffen sofort getrennt. Und damit fing dann das Problem auch an. Er hat das nicht akzeptiert und dann ging der ganze Stress los. Aber es gibt natürlich auch viele Frauen, die das viele, viele Jahre lang aushalten. Häufig wegen finanzieller Abhängigkeiten. Sie haben gar keine Möglichkeit, sich zu trennen, weil sie dann nämlich auf der Straße stehen und keine finanzielle Unterstützung mehr haben."

Ausweg aus der Gewalt kann teuer werden

Wütend macht Diana Hennig, dass betroffene Frauen darüber hinaus auch noch jede Menge Kosten zu tragen haben: "Bei mir sind das inzwischen 6.627,75 Euro. Aber da sind Sachbeschädigungen wie zerstochene Reifen und eingeschlagene Scheiben noch gar nicht dabei." Sie konnte zwar Gerichtskostenbeihilfe beantragen, aber die muss sie ja zurückzahlen, wenn sie dann irgendwann wieder auf eigenen Beinen steht. "Nach sechs Jahren kamen die Rückforderungen."

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Diana Hennig erzählt von mehr als 6.000 Euro, die sie bis heute aufwenden musste, um sich gegen ihren Ex zu wehren.

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Es sind ausschließlich Gerichts- und Anwaltskosten. Denn wenn eine Frau vor Gericht geht, um eine Gewaltschutz-Anordnung zu bekommen - etwa, damit sich der Mann ihr nicht mehr nähern darf -, werden vom Richter die Kosten meist geteilt. Auch wenn die Schuld des Täters zweifelsfei erwiesen ist.

Das macht Viola Worsch wütend. "Wie kann es denn sein, dass die Frau an den Kosten des Verfahrens beteiligt wird? Sie hat überhaupt nichts gemacht!"

Viola Worsch betreut seit 2013 die Außenstelle des Weißen Rings im Ilm-Kreis. Dabei nimmt sie wahr, "dass es zunehmend Frauen gibt, die häusliche Gewalt erleben, Stalking erleben, von Ex-Partnern oder Partnern bedroht werden und in Situationen kommen, in denen sie Gewaltschutz brauchen, Schutz durch die Polizei brauchen und den Schutz suchen und dann merken, dass sie damit Probleme bekommen, die sie nicht erwartet haben."

In Thüringen sind in den vergangenen sieben Jahren insgesamt 49 Frauen von ihren Partnern oder Ex-Partnern getötet worden. Das geht aus Daten der Thüringer Gleichstellungsbeauftragten Gabi Ohler hervor. Sie beruft sich dabei auf Angaben von rund 80 Thüringer und bundesweiten Beratungs- und Hilfsangeboten zum Thema Gewalt. Diese sind im Internet nun zusammen unter www.handle-jetzt.de aufgelistet. Daraus geht auch hervor, dass in Thüringen jährlich zwischen 1.780 und 2.400 Frauen Opfer von Gewalt werden.

Ich habe mich nach den ersten zwei Übergriffen sofort getrennt. Aber damit fingen die Problem dann erst an.

Diana Hennig

Für Viola Worsch und Diana Hennig ist diese Zahl allerdings zu niedrig angesetzt. In den polizeilichen Statistiken wird Gewalt gegen Frauen nicht separat erfasst. "Wenn überhaupt ermittelt wird, dann beispielsweise wegen Körperverletzung ganz allgemein."

Das bestätigt auch das Thüringer Justizministerium auf Anfrage: "Datenerhebungen im Rahmen der statistischen Erfassung erfolgen in allen Erhebungsgebieten (Strafrecht, Zivilrecht usw.) nach bundeseinheitlich abgestimmten Kriterien, um eine bundesweit valide Vergleichbarkeit der Daten zu gewährleisten. Erhebungsmerkmale sind die objektivierbaren Deliktsgruppen, die sich wiederum an den gesetzlichen Deliktdefinitionen orientieren." Und Gewalt gegen Frauen ist eben keine solche Deliktgruppe.

Das führt nach Ansicht der beiden unter anderem dazu, dass es nicht ernst genommen wird, wenn Frauen Anzeige erstatten. So erzählt Worsch von einem Fall in Arnstadt, bei dem eine Frau durch ihren Ex-Partner zu Tode gekommen ist. "Die hat vorher 17-mal Anzeige erstattet. Und bei diesen Anzeigen war Videomaterial dabei. Da waren Sprachaufnahmen dabei mit Morddrohungen und es ist nicht mal eine Gefährderansprache gemacht worden. Niemand, aber auch wirklich niemand hat ihm Einhalt geboten."

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Was sie bei ihrer Arbeit für den Weißen Ring im Laufe der Jahre für Erfahrungen gemacht hat, was sie beobachtet, wenn sie mit den Frauen spricht und warum sie so unzufrieden ist, erzählt Viola Worsch im Audio.

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Klare Regeln

Dabei ist der Schutz der Frauen vor Gewalt ganz klar rechtlich geregelt. Und zwar in der Istanbul-Konvention. Doch obwohl Deutschland die unterschrieben hat, sind wir hier nach Meinung von Betroffenen und Experten noch weit von einer adäquaten Umsetzung entfernt.

Zum Aufklicken: Die Istanbul-Konvention

Das "Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt", die sogenannte Istanbul-Konvention, trat Anfang Februar 2018 in Deutschland als rechtlich bindendes Menschenrechtsinstrument in Kraft.

Die Konvention verfolgt unter anderem die Ziele, Betroffene vor Gewalt zu schützen, einen Beitrag zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau zu leisten und die Möglichkeiten der Strafverfolgung zu verbessern.

Eine zehn- bis 15-köpfige Gruppe von Experten und Expertinnen (Group of experts on action against violence against women and domestic violence, GREVIO) überwacht die Umsetzung des Übereinkommens durch die Vertragsstaaten. Der GREVIO-Ausschuss sieht in Deutschland ebenso wie Diana Hennig noch große Probleme in der Umsetzung.

Das fängt damit an, dass es keine konkreten Zahlen gibt, so die Fachleute. Zwar würden in Deutschland zahlreiche relevante Daten von verschiedenen Institutionen gesammelt. Diese seien jedoch derartig fragmentiert, dass eine vollständige Erfassung von geschlechtsspezifischer Gewalt und häuslicher Gewalt nicht möglich ist. 

Zu wenig sensibilisiert für die Lage der Gewaltopfer

Erhebliche Defizite werden im Bereich der Aus- und Weiterbildung von Angehörigen von Berufsgruppen, die mit Opfern oder Tätern von geschlechtsspezifischer Gewalt zu tun haben, festgestellt.

Um den Vorgaben der Istanbul-Konvention zu entsprechen, bedürften insbesondere Richter, Staatsanwälte und Polizisten regelmäßiger Schulungen. Die sind während Corona aber fast alle ausgefallen und wenn sie stattfinden, sind sie meist freiwillig, sagt Diana Hennig.

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Und Viola Worsch ergänzt, dass sie immer wieder vor Gericht auf Vorurteile und Geschlechterstereotype trifft: "Die Täter schaffen es sehr gut, sich vor Gericht als ruhig und seriös zu präsentieren. Den Frauen wird nicht geglaubt, dass diese Männer auch eine andere Seite haben."

Täter sehen selten Konsequenzen

Wenn von Nachbarn oder den betroffenen Frauen selbst die Polizei gerufen wird, kommt die zwar, erzählt Diana Hennig. Oft werde aber vor Ort die Situation nicht ernst genommen. "Da heißt es dann, dass sich da zwei Leute streiten und es wird nichts getan." Auch wenn der Täter gegen die Auflagen des Gerichts verstoße, folgten selten Konsequenzen.

Nähert er sich beispielsweise dem Haus seines Opfers auf 15 Meter, obwohl maximal 30 Meter erlaubt sind, wird nicht etwa ein Strafverfahren eingeleitet. "Die Frau muss dann aufgrund ihrer Gewaltschutz-Anordnung zivilrechtlich das angedrohte Strafgeld einklagen." Diese Verfahren können aber, so Diana Hennig, Jahre dauern und müssen ja auch wieder bezahlt werden.

Polizei fordert Unterstützung

Das hört auch Meike Herz von der Polizeivertrauensstelle oft. Die Beschwerden, die sie und ihr Team erreichen, richten sich gegen Polizei und Justiz.

Zum Aufklicken: Was ist die Polizeivertrauensstelle?

Die Vertrauensstelle der Thüringer Polizei besteht seit dem 1. Dezember 2017. Sie ist direkt dem Thüringer Staatssekretär für Inneres und Kommunales unterstellt und nicht Teil der Organisationsstruktur der Polizei. Eingerichtet wurde sie als Anlaufstelle für Bürgerinnen und Bürger bei Fragen/Erörterungsbedarf zu polizeilichen Maßnahmen. Derzeit sind zwei Personen in der Polizeivertrauensstelle tätig.

Im Jahr 2021 sind insgesamt 511 Anfragen (Beschwerden und Anfragen) in der Polizeivertrauensstelle eingegangen. Von den 234 Beschwerden richteten sich 112 gegen die fachlichen Entscheidungen, 145 (auch) gegen das Auftreten der Polizeibeamten.

Im Jahr 2021 wurden 212 Beschwerden abschließend geprüft. Davon konnten 113 Beschwerden von der Polizeivertrauensstelle (zum Teil nach Anfragen bei den Polizeidienststellen) gegenüber den Beschwerdeführern eigenständig erläutert werden, 99 wurden an die betreffenden Dienststellen abgegeben.

Von den Polizeidienststellen wurden im Zuge der Beschwerdebearbeitung in sechs Fällen strafrechtliche Ermittlungen gegen Polizeiangehörige eingeleitet und zum Teil bereits der jeweiligen Staatsanwaltschaft zur Entscheidung vorgelegt. In drei Fällen wurde durch die Polizeivertrauensstelle der Anfangsverdacht von Straftaten gesehen, der sich nicht gegen Polizeiangehörige richtete. Nach Abgabe an die zuständigen Stellen wurden dort Ermittlungsverfahren eingeleitet.

Die Kritik gegenüber den Polizeibeamten richtet sich nach Herz Erfahrungen häufig gegen als nicht emphatisch empfundenes Verhalten oder fehlende Rechtskenntnis.

Allerdings weist sie darauf hin, dass entsprechenden Einsätze von den Polizeiangehörigen als sehr belastend empfunden werden. "Das betrifft die sehr begrenzten polizeilichen Handlungsmöglichkeiten, aber auch die Sorge um die Kinder, die in dieser Situation belassen werden müssen. Die Beamten fordern immer wieder mehr Schulungen zum Thema und ein wirksames Hochrisikomanagement", so Meike Herz.

Meike Herz ergänzt, dass der Justiz generell "Naivität im Hinblick auf die Resozialisierungsmöglichkeiten des Täters" unterstellt wird. Frauen haben ihr erzählt, dass sie ihrem Peininger nach einer nicht angekündigten Haftentlassung völlig unerwartet gegenüber standen. "Ein noch minderjähriges Vergewaltigungsopfer musste dem Täter regelmäßig weiter an ihrer Heimatadresse begegnen."

Was Betroffene kritisieren • die Dauer der Verfahren
• das als zu gering empfundene Strafmaß
• die fehlende Kontrolle der verhängten Maßnahmen beziehungsweise die fehlenden Sanktionen bei Nichteinhaltung
• das aus Sicht der Betroffenen fehlende Verständnis für ihre Ängste und ihr Sicherheitsbedürfnis
• die hohen Kosten für die Rechtsverfolgung
• die unzureichenden Informationen zum Beispiel über Hafturlaub
• den Umgang mit dem Sorgerecht

Gedanken an Selbstjustiz

Viola Worsch berichtet von Frauen, die nach Jahren des vergeblichen Kampfes gegen Stalking nach immer wieder eingestellten Verfahren nach Anzeigen zu ihr sagten: "Ich wünschte, er wäre tot. Dann hätte ich endlich keine Angst mehr."

Zwei Frauen in einem Wintergarten mit Ordnern. 4 min
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Viola Worsch und Diana Hennig über den Gedanken an Selbstjustiz und warum Frauen die Folgen der Gewalt über Jahre tragen müssen.

MDR FERNSEHEN Do 24.11.2022 19:15Uhr 03:32 min

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Und Diana Hennig erzählt, dass Freunde, die gesehen hatten, wass sie alles aushalten muss, ihr angeboten haben, sich "darum zu kümmern". Aber sie lehnt Selbstjustiz ab. "Egal, was er mir angetan hat, ich muss auf anderem Wege zu meinem Recht kommen."

MDR (gh)

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Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Nachrichten | 25. November 2022 | 12:00 Uhr

12 Kommentare

Frau K. am 27.11.2022

Die Frauenfeindlichkeit wird nicht abnehmen. Die Branche der künstlichen Intelligenz ist größtenteils männlich besetzt und so wird die Frau wie schon in der medizinischen Forschung kaum Berücksichtigung finden. Zurück ins Mittelalter...KKK

Frau K. am 27.11.2022

@Seniorin
Bei meinen Verwandten gab es häusliche Gewalt. Zuerst wurde erzwungen über die Partei, dass die Ehe erhalten bleibt, und als es doch zur Scheidung kam, da erhielt der Mann keine eigene Wohnung sondern die Kinder mussten das Kinderzimmer räumen.
Na, wenn das mal Opferschutz war im Osten....

Alexa007 am 26.11.2022

Nanu, für die Eröffnung des gemeinsamen Kontos müssen natürlich beide Partner unterschreiben. Und in unserem Land können Fraue und Männer ihre Religion aussuchen oder Atheistin sein. Früher war nicht alles besser, sondern vieles schlechter.

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