Schuldenbremse Gefahr Sondervermögen: Viel mehr Schulden, als gedacht

22. Oktober 2022, 05:00 Uhr

Hunderte Milliarden Euro will die Regierung an Krediten aufnehmen – für die Bundeswehr oder die Gas-Preis-Bremse. Doch es wird Sondervermögen genannt und damit die Schuldenbremse umgegangen. Das ist erst seit einer Gesetzesänderung vor einem Jahr möglich und dahinter steckt eine große Gefahr für Deutschland und die EU, warnen Experten.

200 Milliarden für die Gas-Preis-Bremse, 100 Milliarden für die Bundeswehr oder Milliarden in der Corona-Pandemie. Sondervermögen sind gerade offenbar die politische Antwort auf alle Krisen – ohne dabei die Schuldenbremse zu berühren. Doch damit werden im großen Stil neue Schulden gemacht und immer wieder sind darin auch Ermächtigungen enthalten, die sogar noch weitere Kredite ermöglichen.

Prinzipiell darf der Staat neue Schulden machen – trotz Schuldenbremse, etwa in Notlagen. Eine Frage die aktuell diskutiert wird: Gilt diese Notlage auch für die Bundeswehr? "Nun hätte man vielleicht eine Notlage auch erklären können bezüglich der Verteidigungsfähigkeit", sagt Thiess Büttner, Vorsitzender des unabhängigen Sachverständigengremiums für den Stabilitätsrat im Bundesfinanzministerium. Doch das sei juristisch umstritten.

Bundeswehr: Ist mangelhafte Ausrüstung eine Notlage?

"Die Notlagen-Regelung im Grundgesetz sagt eigentlich, es muss etwas sein, was der Staat nicht selbst zu verantworten hat", so Thiess Büttner, der eine Professur für Volkswirtschaftslehre an der Universität Erlangen-Nürnberg innehat. "Und hier in diesem Fall ist eben die mangelnde Ausrüstung der Bundeswehr ja Ergebnis ganz bewusster politischer Entscheidungen."

Zudem ist das Budget der Bundeswehr in den vergangenen Jahren stetig gewachsen. Eigentlich wurde das Budget der Bundeswehr in den vergangenen fünf Jahren um 35 Prozent auf rund 50 Milliarden Euro erhöht.

Doch das Geld ist offenbar nicht immer gut investiert worden. Ein Beispiel: Die Bundeswehr hat für 600 Millionen Euro aus dem Wehretat Funkgeräte aus den 1980er Jahren nachbauen lassen, anstatt in die Digitalisierung zu investieren, wie "Der Spiegel" vor einem Jahr berichtete. Es ist eines von vielen Versäumnissen – nicht nur bei der Bundeswehr und diese sollen nun offenbar durch Sondervermögen mit gigantischen Summen ausgeglichen werden.

Seit Corona: Warum Sondervermögen nicht mehr in den Haushalt zählen

Insgesamt gibt es auf Bundesebene inzwischen 27 Sondervermögen. "Wenn man sich die Geschichte anguckt: Die großen Sondervermögen hängen wirklich mit den epochalen Änderungen für Deutschland zusammen", sagt Thiess Büttner. Das sei nach dem Zweiten Weltkrieg gewesen, nach der Wiedervereinigung, der Finanzkrise 2008 und nun die Corona- und die Energie-Krise. "Die Sorge, dass hier zu viel Politik mit Sondervermögen gemacht wird, ist alt. Man nennt das auch die Flucht aus dem Budget." Etwa wenn die Politik versuche Haushaltsregeln zu unterlaufen – denn seit der Schuldenbremse muss der Haushalt eigentlich ausgeglichen sein.

Dennoch kann es aufgrund außergewöhnlicher Umstände nötig sein, neue Schulden aufzunehmen – etwa in Notlagen. Um aber keine Flucht aus dem Budget zu ermöglichen, habe der Bund bei Einführung der Schuldenbremse die Sondervermögen mit angerechnet, sagt der Experte für Finanzwissenschaft, Thiess Büttner. Ob etwa die Bundeswehr nun in einer Notlage ist, ist umstritten. Doch es sei inzwischen eine entscheidende Änderung bei der Schuldenbremse eingeführt worden.

 "Man hat in der Corona-Krise dann mit dem zweiten Nachtragshaushalt im letzten Jahr nicht nur die Corona-Schulden umgewidmet. Man hat auch die Regelung zur Verbuchung der Sondervermögen geändert", sagt Thiess Büttner. Seitdem werden die Sondervermögen nicht mehr auf die Schuldenbremse angerechnet. "Und damit dürften wir in der Zukunft noch weitere Sondervermögen sehen."

Und damit dürften wir in der Zukunft noch weitere Sondervermögen sehen.

Thiess Büttner Finanzwissenschaftler

Sondervermögen: Einladung zu noch mehr Schulden?

 "Am Ende sind diese Sondervermögen extra Schuldentöpfe. Sie dürften nur dafür eingesetzt werden, um die außergewöhnliche Situation abzuwenden", sagt der Präsident des Bundes der Steuerzahler, Reiner Holznagel. So wie es etwa während der Corona-Pandemie geschehen sei.

Allerdings können Sondervermögen finanziell immer weiter aufgestockt werden, als bei deren Gründung ursprünglich vorgesehen war – solange der Bundestag mehrheitlich zustimmt, so Reiner Holznagel. "Deswegen laden diese Sondervermögen oft ein, sich noch mehr zu verschulden, als es überhaupt möglich ist oder überhaupt ja vor dem Hintergrund der Schuldenbremse gesetzlich legitimiert ist."

"Bereits im April sind mit dem Sondervermögen für die Bundeswehr und den Resten aus der Corona-Notlage und deren Umwidmung für den Klimaschutz knapp 200 Milliarden Euro an sogenannten Ermächtigungen für Kredite aufgesetzt worden, sagt Thiess Büttner. "Also ungefähr fünf Prozent am Bruttoinlandsprodukt (BIP)." Laut Schuldenbremse sind eigentlich nur 0,35 Prozent zulässig.

Außerhalb der Schuldenbremse und mit dem gerade noch einmal erweiterten Wirtschaftsstabilisierungsfonds (Gas-Preis-Bremse) "kommen wir tatsächlich auf zehn Prozent der Wirtschaftsleistung, die man an Defiziten eingehen kann, ohne durch die Regelung der Schuldenbremse begrenzt zu sein", so Thiess Büttner. Das ist über das Zwanzigfache von dem, was die Schuldenbremse eigentlich zulassen würde.

"Das bedeutet auch, dass die Schuldenbremse nicht mehr sicherstellt, dass Deutschland die europäischen Fiskalregeln und damit den europäischen Stabilitätspakt einhält", sagt Thiess Büttner. Diese liegen bei 0,5 Prozent des BIP. Dadurch wachse auch die Gefahr einer erneuten Euro-Krise.

Trotz Notlage: Warum werden gerade Sondervermögen eingesetzt? 

Die Alternative zu Sondervermögen wäre an anderen Stellen zu sparen oder Geld aufzutreiben. Doch das könnte zu Streit in der Koalition führen. Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) ist strikt gegen Steuererhöhung und Sozialkürzungen sind mit der SPD und Bundeskanzler Olaf Scholz ebenfalls unwahrscheinlich. Auch eine Aussetzung der Schuldenbremse erscheint durch die besondere Situation möglich, doch auch dies will der Finanzminister nicht. So kommt ein weiteres Problem bei den Sondervermögen hinzu – der Umgang damit und damit mit sehr viel Geld.

Denn offenbar sollen damit politische Probleme gelöst werden, erklärt der Sprecher des Steuerzahlerbundes, Reiner Holznagel. "Sondervermögen können auch gegründet werden, damit man eben keine Steuern erhöhen muss oder auch nicht die Verschuldung erhöhen muss. Aber viel wichtiger: Man will nicht sparen und keine Prioritäten setzen. Und das ist, glaube ich, die Quintessenz, die wir immer wieder feststellen müssen", erklärt er. "Ein Sondervermögen ist mittlerweile eine billige, politische Masche, um sich der tagtäglichen Verantwortung zu entziehen, Prioritäten im Haushalt zu setzen."

Ein Sondervermögen ist mittlerweile eine billige, politische Masche, um sich der tagtäglichen Verantwortung zu entziehen, Prioritäten im Haushalt zu setzen.

Reiner Holznagel Präsident des Bundes der Steuerzahler

Tilgung der Sondervermögen erst in ein paar Jahren

Und so wird das aktuelle Problem in die Zukunft verlagert: Die Kredite – die durch die Sondervermögen und unter offizieller Einhaltung der Schuldenbremse – aufgenommen werden, müssen schließlich irgendwann bezahlt werden. "Die Tilgung würde nach der Planung beim Bund ab 2028 anfallen", sagt Finanz-Experte Thiess Büttner. "Wenn man die europäischen Schulden hinzurechnet, kommt man auf einen Betrag von knapp unter 20 Milliarden, die dann jährlich aus dem Bundeshaushalt aufgebracht werden müssen." Allerdings kämen dann auch noch die Tilgung der 200 Milliarden für die Gas-Preis-Bremse (Wirtschaftsstabilitätsfond) obendrauf.

Das bedeutet wiederum für die Zukunft, "dass man in anderen Bereichen eben Geld sparen muss, um diese Mittel für die Tilgung aufzubringen", sagt Thiess Büttner Der Finanzwissenschaftler blickt jedenfalls skeptisch in die Zukunft: Steigen die Schulden weiter in dem Maße, steige ihm zufolge auch die Gefahr einer Währungskrise innerhalb der EU.

Quelle: MDR Investigativ/ mpö

Dieses Thema im Programm: Das Erste | FAKT | 18. Oktober 2022 | 23:45 Uhr

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