Klima-Aktivisten "Letzte Generation": Von der Klimademo in den Knast?

08. Oktober 2022, 05:00 Uhr

Sie kleben sich an Straßen und verärgern zahlreiche Autofahrer oder sie drehen Öl-Pipelines zu: Die "Letzte Generation". Durch ihre Proteste drohen den Klima-Aktivisten auch harte Strafen. Einem Familienvater aus Dresden drohte sogar Gefängnis – und trotzdem will er weiter demonstrieren.

Sie üben in Dresden für eine Straßenblockade, die Mitglieder der Klima-Aktionsgruppe "Aufstand der letzten Generation". Die jungen Klima-Aktivisten werden von Christian Bläul angeleitet. Der 40-jährige Dresdner hat sich neben seinem Beruf als Software-Entwickler ganz dem Kampf gegen den Klimawandel verschrieben – und seit 2019 an über 50 Straßenblockaden teilgenommen. Doch was motiviert den Familienvater trotz drohender Inhaftierung und möglichem finanziellen Ruin sowie Streit in der Familie?

"Also ich habe durch die Aktion eine ganze Bandbreite von Reaktionen erfahren, sowohl was die Polizei als auch die Justiz angeht", erklärt Christian Bläul. Den jungen Klima-Aktivisten wolle er vor allem die psychologische Komponente vermitteln: Wie sich das anfühlt, wirklich mit diesen Situationen konfrontiert zu sein.

So üben sie in Dresden auf einem Hinterhof, wie sie mit Autofahrern umgehen können, die ihnen mit Wut und Aggression begegnen. Die Rollen werden verteilt: "Du hast ein Begräbnis, was du nicht verpassen willst, oder eine wichtige Operation", nennt Christian Bläul Beispiele. "Das können auch gerne sehr persönliche Sachen sein, und ihr müsst auf jeden Fall da durch." Während des Spiels sagt einer der Teilnehmer: "Ich würde jetzt total durchdrehen, wenn ich der Autofahrer wäre..."

Ich würde jetzt total durchdrehen, wenn ich der Autofahrer wäre…

Mitglied Aktionsgruppe "Letzte Generation"

Der Verkehr steht: Blockaden in Dresden und Berlin

Die Straßenblockaden sind für die Aktionsgruppe eine Art Aufmerksamkeitsgarant. Wo der Verkehr steht, ist die Empörung groß. Christian Bläul klebt sich immer wieder an der Straße fest – in Dresden und vor allem in Berlin – mit Sekundenkleber. So will er eine zeitnahe Räumung durch die Polizei verhindern. "Wir werden so lange in Aktion gehen, bis die Regierung den Ernst der Lage begreift und dementsprechend handelt", sagt er in einem Video auf Youtube.

Die Aktivisten fordern ganz konkrete gesetzliche Maßnahmen für mehr Klimaschutz. Etwa ein Gesetz gegen Lebensmittelverschwendung – als sie die FDP-Parteizentrale in Berlin mit Gemüse und Obst bewarfen. Oder ein Tempolimit auf der Autobahn – als sie mit PKWs die anderen Verkehrsteilnehmer langsamer fahren ließen.

Doch das ganz große Ziel ist: Endlich raus aus der fossilen Energie. So war Christian Bläul auch Ende April dabei, als die Gruppe zeitgleich mehrere Öl-Pipelines zu gedreht hatte. Immerhin: Den Betreiber hatte der Dresdner kurz zuvor telefonisch in Kenntnis gesetzt.

Experte: Kein Wunder, dass die Aktionen immer radikaler werden

Von der Politik hätten sich die Aktivisten deutlich konsequentere Maßnahmen erhofft, sagt Dieter Rucht vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Der Soziologe forscht seit Jahren zur Klimabewegung und ihn wundert nicht, dass die Aktionen immer radikaler werden, denn durch die Reaktionen der Politik mache sich Frust breit – und der könne zwei Richtungen einnehmen: "Entweder man resigniert, es hat alles nichts genützt. Oder man muss andere Wege ausprobieren. Das heißt, die Aktionen müssen frecher, offensiver, störender und radikaler werden."

Doch je radikaler der Protest, desto stärker reagieren Polizei und Justiz. Das ist auch Thema für den Workshop der Aktivisten in Dresden. Wie kann man sich im Polizeigewahrsam verhalten? "Also nichts ist schlimmer, als wenn wir denken, wir sind jetzt allein in einer Zelle", versucht Christian Bläul den Teilnehmern die Angst zu nehmen. Er schlägt dann vor: Richtig laut singen. "Stellt euch vor da singt jemand aus der Nachbarzelle mit – einfach herrlich." Ansonsten sollten die jungen Menschen in Gewahrsam eigene Rechte einfordern: Essen, Wasser oder auf die Toilette gehen.

Mann aus Dresden saß wegen Demo in Schweden im Gefängnis

Christian Bläul spricht aus Erfahrung – er saß schon im Gefängnis und ihm droht eine Haftstraße. In Stockholm war er im August an der Straßenblockade einer schwedischen Partnerorganisation der "Letzten Generation" beteiligt. Die Polizei räumte die Straße. Der Dresdner wurde direkt dem Richter vorgeführt. Dieser ordnete aufgrund von Fluchtgefahr U-Haft an.

"Es ist natürlich mit krassen Einschränkungen verbunden", sagt Christian Bläul gegenüber MDR exakt. Doch für ihn sei das Gefängnis einfacher zu ertragen, weil er das Gefühl habe, seinen Teil erledigt zu haben. "Ich habe meine Meinung gezeigt, indem ich auf die Straße gegangen bin. Und jetzt trage ich die Konsequenzen dafür." Erst nach 16 Tagen wurde er aus der U-Haft entlassen. Der zweifache Vater durfte zurück nach Deutschland. Doch das Urteil stand zu diesem Zeitpunkt noch aus.

"Ich kann nur so ein bisschen ahnen, was passiert, weil es leider fast noch gar keine Verurteilung dazu gab", sagt Christian Bläul. "Also der Vorwurf des Gerichts ist Sabotage, und das Maximum sind vier Jahre Gefängnis, die mir da passieren könnten."

"Letzte Generation" hat viel Ärger mit der Justiz

Doch Christian Bläul hat auch in Deutschland Ärger mit der Justiz. Der Aktivist hat bereits einen ganzen Ordner voller Anzeigen, Bußgeldbescheide und sogar Strafbefehle gesammelt. Wenn der 40-Jährige die beiden Strafbefehle und die Gebühren für die Ablöse bei der Polizei zusammenrechen, liege er aktuell bei 8.000 Euro. "Aber für die meisten Sachen habe ich noch gar keine Rechnung."

Zahlen will er die Strafen. Falls sein Erspartes dafür überhaupt reicht. Zuhause ist die Stimmung nach den zahlreichen Anzeigen langsam angeknackst: "Bei meiner Familie ist schon die Sorge da, dass es massive Konsequenzen hat, was die finanzielle Situation angeht", so Christian Bläul. "Und meine Worte, dass meine Schulden nicht die restliche Familie treffen, scheinen nicht zu reichen. Also da sind schon noch große Ängste da."

Gewahrsam für Frau aus Leipzig nach Abseilaktion an Autobahn

Deutschlandweit laufen derzeit über 100 Verfahren gegen Mitglieder der Gruppe "Letzte Generation". Mirjam Herrmann gehört zum "legal Team" und unterstützt im Falle von Strafanzeigen. Die angehende Juristin hat ihr Studium auf Eis gelegt und sei nun Vollzeit-Aktivistin, denn es gebe aus ihrer Sicht nur noch wenige Jahre, um das Ruder beim Klima rumzureißen: "Ich kann jetzt nicht mich hinsetzen und für mich studieren, um dann einen guten Job zu haben. Das kann ich mit mir einfach moralisch gar nicht vereinbaren."

Auch gegen die 25-Jährige aus Leipzig läuft ein Verfahren. Sie hatte sich an den Protesten während der Internationalen Automobil Ausstellung in München beteiligt. Es kam zu Abseilaktionen an Autobahn-Brücken. Die Autobahn war gut 1,5 Stunden lang gesperrt. Für sie und einen anderen Aktivisten ging es danach direkt zum Haftrichter. Dieser urteilte: Fünf Tage Präventivgewahrsam. Es bestehe Wiederholungsgefahr. 

"Wir hatten klar gesagt, dass wir das nicht noch mal machen werden. Aber das war dem Gericht in dem Punkt irgendwie egal", erklärt Mirjam Herrmann. Doch nach drei Tagen wurde sie vorzeitig entlassen. "Weil das Landgericht in Landshut entschieden hat, dass das rechtswidrig war, uns in Gewahrsam zu nehmen und ins Gefängnis zu stecken."

Nötigung in fast 1.300 Fällen: Drohen bis zu vier Jahre Gefängnis?

Dann kommt die Anklageschrift. Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft München: Nötigung in genau 1.296 Fällen. Darin habe keine Strafe gestanden, doch diese sei an das Schöffengericht adressiert gewesen. "Das Schöffengericht ist ja zuständig für Strafen, die sich in der Androhung von Haft zwischen zwei und vier Jahren bewegen", erklärt Mirjam Herrmann. Bei Strafen ab zwei Jahren gibt es auch keine Bewährung mehr. "Das wäre dann wirklich eine tatsächliche Gefängnisstrafe. Also da ist schon kurz die Luft weggeblieben."

Das wäre dann wirklich eine tatsächliche Gefängnisstrafe. Also da ist schon kurz die Luft weggeblieben.

Mirjam Herrmann Klima-Aktivistin

"Ich halte aber zumindest bei überschlägiger Betrachtung, nach Kenntnis des mir vorliegenden Sachverhalts, diese Straferwartung für überhöht", sagt der Rechtswissenschaftler Alexander Brade, nachdem MDR exakt ihm den Fall vorgelegt hat. Die Gründe: "Erstens ist es der Tatvorwurf der Nötigung, der im Raum steht. Und zweitens müssen immer auch noch die Ziele, die die Demonstranten verfolgt haben, berücksichtigt werden."

Die Abwägung zwischen dem Recht auf Protest einerseits und dessen Verwerflichkeit andererseits, sei laut Brade auch für Juristen eine schwierige Einzelfallentscheidung. "In der Regel werden solche Protestaktionen der Versammlungsfreiheit unterfallen." Weil es sich nicht um eine aggressive Form des Widerstandes handele. Doch es würde dann auch auf die Abwägung der Interessen ankommen: "Angeblich unzureichenden Maßnahmen gegen den Klimawandel, andererseits der blockierten Straßenverkehrsteilnehmer." Dann würden die Umstände des Einzelfalls geprüft: "Also wie lange dauert die Blockade an? Wie intensiv ist sie? Wie stark sind Rechte anderer dadurch beeinträchtig."

Eine kleine Geldstrafe für Straßenblockade in Stockholm

Ein Urteil für Mirjam Herrmann steht noch aus. Indes hat Christian Bläul vor Kurzem ein schriftliches Urteil aus Schweden erhalten. Dort stand drin: "Ich bin verurteilt für Sabotage. Und kurz gesagt meine Strafe sind 75 Euro, die ich einen Opferhilfefonds bezahlen muss", sagt der Vater erleichtert. "Das ist weit weniger, als ich mir vorgestellt hatte. Ich hatte fest damit gerechnet, dass ich eine Freiheitsstrafe auf Bewährung bekomme." Zusätzlich muss er noch 1.300 Euro für den Pflichtverteidiger bezahlen. Doch Weitermachen wollte und will er ohnehin.

Quelle: MDR exakt/ mpö

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Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR exakt | 05. Oktober 2022 | 20:15 Uhr

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