Blick in einen Haftraum in der Justizvollzugsanstalt Tonna. In Thüringer Gefängnissen stehen dem Statistischen Bundesamt zufolge zahlreiche Betten leer.
Die JVA Tonna verfügt über insgesamt 589 Haftplätze, davon sechzig im Offenen Vollzug. Bildrechte: picture alliance / ZB | Michael Reichel

Landkreis Gotha Zwei Todesfälle in der Justizvollzugsanstalt Tonna: Hinweise auf bundesweiten Trend

19. Juni 2023, 05:30 Uhr

In der Justizvollzugsanstalt Tonna sind zwei Männer leblos in ihren Zellen gefunden worden. Nach MDR THÜRINGEN-Recherchen schließen Ermittler eine Überdosis an Drogen nicht aus. Die Staatsanwaltschaft Erfurt ermittelt. Die Fälle deuten auf ein bundesweites Phänomen des Einschmuggelns von Drogen in Haftanstalten hin.

Es kann eine harmlose Postkarte der Oma sein oder der Brief von der Freundin. Nichts deutet daraufhin, dass sich auf und in dem dünnen Papier hochdosierte teilweise lebensgefährliche Substanzen befinden. So werden synthetische Drogen zuvor flüssig auf das Papier aufgetragen und trocknen dort ein. Einmal in der Zelle des Häftlings angekommen, wird das Papier zerkleinert und mit Tabak versetzt. Das Ganze wird in eine Zigarette gedreht und geraucht, in der Hoffnung auf einen Drogenkick. Nur ist nicht immer sicher, wie das für den Häftling am Ende ausgeht.

Zwei Todesfälle in der Justizvollzugsanstalt Tonna beschäftigen aktuell die Staatsanwaltschaft Erfurt. Offiziell bestätigt wird lediglich, dass es zwei Verfahren zur Ermittlung der Todesumstände gibt - keine weiteren Details.

Drogen nur schwer zu entdecken

Die beschriebene Schmuggelmethode zeigt aber, dass Thüringen keine Insel ist. Denn das Thüringer Justizministerium bestätigte MDR THÜRINGEN, dass dies ein bundesweites Phänomen sei, dass auch in Thüringer Haftanstalten beobachtet werde, und dass es enorm schwer sei, diesem in irgendeiner Form Herr zu werden. Denn bei den Drogen, die auf das Papier aufgebracht werden, handelt es sich um sogenannte "Neue Psychoaktive Substanzen" (NPS). Dazu zählen Cannabinoide, die bei den herkömmlichen Drogentests, wie Urin- und Speichelkontrollen nur schwer nachzuweisen sind. Falsch und zu hoch dosiert können sie lebensgefährlich sein.

Inzwischen hat das Ministerium reagiert. Derzeit liefen Markterkundungen nach entsprechenden digitalen Drogenscannern, mit denen eingehende Post für die Häftlinge untersucht werden kann, heißt es. Dafür seien für das Haushaltsjahr 2024 entsprechende Mittel eingestellt worden.

Geplant sei noch in diesem Jahr, mit einem Pilotversuch in der JVA Tonna zu beginnen. In Tonna selber hat man wohl auch inzwischen reagiert. In einigen Hafthäusern sollen die Häftlinge wohl nicht mehr die originale Papierpost erhalten, sondern eine Kopie.

Ermittlungen zu Todesfällen in Tonna

Ob die beiden Häftlinge genau an diesen neuen psychoaktiven Drogen gestorben sind und ob auch hier eingeschmuggeltes, mit Drogen versetztes Papier eine Rolle gespielt hat, dazu wollen sich Staatsanwaltschaft und Thüringer Justizministerium nicht äußern. Fakt ist: Mitte Februar entdeckten Justizvollzugsbeamte beim morgendlichen Aufschluss den einen 24-jährigen Häftling tot in seiner Zelle. Er soll aufrecht gesessen haben, den Kopf im Nacken. Nach MDR THÜRINGEN-Informationen soll es keine Hinweise auf einen Selbstmord gegeben haben. Der Häftling soll nur wenige Wochen vor seiner Haftentlassung gestanden haben.

Ist er an einer Überdosis Drogen gestorben? Genau diesem Verdacht gehen die Ermittler nach. Nur fünf Monate später das Gleiche wieder. Vor gut einer Woche entdeckten die Beamten einen 37-jährigen Häftling. Auch er leblos in seiner Zelle, auch hier deutet vieles auf einen Drogenhintergrund hin. Er saß in der Untersuchungshaft und sollte sich ab vergangenen Dienstag vor dem Amtsgericht Erfurt wegen Kfz-Diebstahls und Hehlerei verantworten. Zu diesem Prozess wird es nun nicht mehr kommen.

Droge Fentanyl gefunden

Nach Angaben des Thüringer Justizministeriums gibt es seit Jahresbeginn fünf bestätigte Fälle, bei denen über getränktes Papier offenbar Drogen konsumiert worden sind. Davon gab es zwei Fälle in Tonna und drei Fälle in der Jugendstrafanstalt in Arnstadt. Nach Recherchen von MDR THÜRINGEN musste in Arnstadt ein junger Häftling durch den Notarzt gerettet werden, nachdem er aufgrund einer mutmaßlichen Überdosis zusammengebrochen war.

Fentanyl-Zitrat-Fläschchen
Fentanyl ist ein künstlich hergestelltes Opioid. Es wird als Medikament bei starken Schmerzen verabreicht und ist rund 50-mal stärker als Heroin bzw. rund 100-mal stärker als Morphin. Bildrechte: IMAGO/imagebroker

Besonders alarmierend ist dabei, dass laut Justizministerium in einem Fall in Tonna die Droge Fentanyl gefunden worden ist. Bei Fentanyl handelt es sich um ein Schmerzmittel. Seit Jahren schon gibt es besonders in den USA eine regelrechte Drogenepidemie durch Fentanyl, der inzwischen Tausende Süchtige zum Opfer gefallen sind. Bei dieser Substanz reicht schon eine minimale Überdosierung, um daran zu sterben.

Schon vor Jahren gab es Ermittlungen

Besonders die JVA Tonna steht immer wieder im Mittelpunkt von Drogenermittlungen. So hatten das Landeskriminalamt und die für organisierte Kriminalität zuständige Staatsanwaltschaft Gera vor einigen Jahren gegen einen Schmugglerring ermittelt. Dabei soll jahrelang alle zwei Wochen eine Lieferung von Drogen in die Haftanstalt gebracht worden sein. Das hatte MDR THÜRINGEN 2017 anhand von Ermittlungsunterlagen, Zeugenaussagen und internen Justizakten öffentlich gemacht.

Demnach wurden Crystal, Spice oder Marihuana über Häftlinge nach Tonna gebracht, die als Freigänger im offenen Vollzug waren. Sie schluckten die Drogenpäckchen oder brachten sie in Körperöffnungen in die JVA. Außerdem wurden Drogen über die Anstaltsmauern an der Gärtnerei geworfen. Dealer brachten sie dann in die einzelnen Hafthäuser und verkauften sie dort über Zwischenhändler. Nach MDR THÜRINGEN-Recherchen wurden die Gelder für die Drogen von Verwandten und Bekannten außerhalb der Haftanstalt auf zwei Konten überwiesen. Die Mütter von zwei Häftlingen sollen die Zahlungen abgehoben haben. Das Geld wurde dann an den Chef des Drogenhändlerrings weitergeleitet.

Zum Aufklappen: Landtagskommission hatte keine Informationen von Todelsfällen

Die Strafvollzugskommission im Thüringer Landtag ist über die beiden Todesfälle nicht informiert worden. Das sagte die Kommissionsvorsitzende, die Linke-Politikerin Karola Stange. Sie sei betroffen angesichts der Vorfälle und irritiert, davon erst durch einen MDR-Beitrag erfahren zu haben, sagte sie. Besonders irritierend sei, dass die Kommission erst im April die JVA Tonna besucht habe, also zwei Monate nach dem ersten Todesfall. Nun soll die Landesregierung zu den Vorfällen Stellung nehmen. Die Fraktionen haben laut Stange einen entsprechenden Antrag eingereicht. Da beide Fälle vermutlich auf eingeschmuggelte Drogen zurückzuführen sind, sollen auch Konsequenzen beraten werden.

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MDR (nis)

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Nachrichten | 18. Juni 2023 | 06:00 Uhr

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