Nahaufnahme der steinernden Gedenktafel an der Synagogenmauer auf der gestapelt Steine liegen.
Das Attentat von Halle jährt sich am Sonntag zum dritten Mal. Es beschäftigt viele Menschen noch heute. Bildrechte: Mitteldeutscher Rundfunk/Daniel Berg

9. Oktober 2019 Gedenken an Attentat von Halle: "Ich fühle nichts mehr, außer stechendem Schmerz“

05. Oktober 2022, 18:53 Uhr

Der rechtsextremistische, antisemitische und rassistische Terroranschlag vom 9. Oktober 2019 in Halle hat das Leben vieler Menschen verändert. Der Attentäter ist längst verurteilt, sitzt lebenslang in Haft. Doch wie geht es den Betroffenen drei Jahre später? MDR SACHSEN-ANHALT hat Max Privorozki, Ismet Tekin und Karsten Lissau noch einmal gesprochen. Wie es ihnen heute geht.

Marie-Kristin Landes
Bildrechte: MDR/Martin Neuhoff

Im Innenhof der Synagoge von Halle steht heute ein Denkmal. Eine Hand in Anlehnung an eine Eiche hält die Tür, die am 9. Oktober 2019 so vielen Menschen das Leben gerettet hat. 52 Eichenblätter stehen für die Überlebenden aus der Synagoge, zwei goldene für die Todesopfer Jana L. und Kevin S.. Die Tür, die hielt, ist zu einem Symbol geworden.

Zwei große deutsche Museen unterbreiteten der jüdischen Gemeinde Angebote, wollten die Tür für Ausstellungen. "Wir haben abgelehnt und zwar einstimmig. Die Tür gehört hierher", erzählt Max Privorozki bei unserem Treffen drei Jahre nach dem Anschlag.

Privorozki: "Wenn ich mich an diesen Tag erinnere, dann geht es um Jana und Kevin."

Er ist der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Halle. Mehrfach in der Woche geht er an dem Denkmal vorbei, das von der Hallenserin Lidia Edel entworfen wurde. Das Denkmal ist zu einem festen Bestandteil der Synagoge und der Gemeinde geworden, genauso wie die Erinnerung an den Anschlag selbst – auch, wenn in der Gemeinde bis heute nur wenig darüber gesprochen wird.

"Wir haben auch nach dem Anschlag sehr wenig unter uns darüber gesprochen, weil jeder verarbeitet das selber", sagt Privorozki. Für ihn sei bis heute das Schlimmste, dass zwei Menschen verstorben sind. Das werde für immer bleiben. "Wenn ich mich an diesen Tag erinnere, dann geht es nicht um die Synagoge, dann geht es nicht um Antisemiten, dann geht es um Jana und Kevin."

Ein andauernder Albtraum für Karsten Lissau

Jana L. lief in dem Moment an dem Attentäter vorbei, als er die Synagoge angriff. Sie sprach ihn an, er schoss ihr mehrfach in den Rücken. Sie wurde nur 40 Jahre alt. Kevin S. machte am Anschlags-Tag gerade Mittagspause im damaligen "Kiez-Döner", ein Imbiss etwa 500 Meter von der Synagoge entfernt auf der Ludwig-Wucherer-Straße. Das zweite Ziel des Attentäters. Dorthin fuhr er, als sein Angriff auf die Synagoge scheiterte. Auch im Kiez-Döner zündete er Sprengsätze und schoss auf Mitarbeitende wie Gäste. Einige konnten sich verstecken oder flüchten, Kevin S. nicht. Der Malerlehrling wurde nur 20 Jahre alt.

Für Karsten Lissau waren die vergangenen drei Jahre ein andauernder Albtraum. Er ist der Vater von Kevin. Seit dessen Tod ist er depressiv. Wie sein Sohn starb, sah er im Video des Attentäters, welches dieser live streamte. Er schreibt uns: "Daran konnte auch das Urteil nichts ändern, da es so etwas wie Gerechtigkeit in dieser Sache nicht gibt." Das Urteil im Prozess gegen den Attentäter fiel am 21. Dezember 2020. Er wurde wegen zweifachen Mordes und versuchten Mordes in 62 Fällen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt.

Lissau sagte als einziger Angehöriger der Todesopfer aus

Im Prozess gegen den Attentäter sagte Karsten Lissau als einziger Angehöriger von einem der beiden Todesopfer aus. Der MDR hat ihn damals dabei begleitet. "Die Zeit während des Prozesses habe ich als belastend, aber auch ermutigend in Erinnerung. Belastend, weil der Täter auch aus dem Gericht immer wieder dummes Zeug geredet hat und ich nach jedem Prozesstag kaum gewagt habe, einen Blick in die Medien zu werfen. Ermutigend, weil ich viele Leute kennenlernen durfte, die mir immer wieder Mut und Trost zugesprochen haben," schreibt Lissau heute.

Er könne nicht beschreiben, welches der Gefühle überwiege. "Vielleicht ist es auch die Taubheit, die mir keine genaue Einordnung möglich macht. Denn über meinem ganzen Leben ist ein Gefühl der Lähmung, ein Gefühl, dass ich nichts mehr fühle, außer stechendem Schmerz."

Vielleicht ist es auch die Taubheit, die mir keine genaue Einordnung möglich macht. Denn über meinem ganzen Leben ist ein Gefühl der Lähmung, ein Gefühl, dass ich nichts mehr fühle, außer stechendem Schmerz.

Karsten Lissau Vater des ermorderten Kevin S.

Drei Jahre nach dem Anschlag: Trauma und Enttäuschung

Einer, der zu Karsten Lissau Kontakt gehalten hat, ist Ismet Tekin, der frühere Chef des Kiez-Döner in Halle. Auch ihn treffen wir noch einmal wieder. Am 9. Oktober 2019 war er gerade hinaus auf die Straße vor seinem Imbiss gegangen, um Einkäufe zu erledigen. Sein Bruder Rıfat bediente derweil die Gäste im Imbiss. Als Ismet Tekin bemerkte, was im Laden passierte, rannte er zurück. Er geriet in den Schusswechsel zwischen dem Attentäter und der eingetroffenen Polizei – und er war es, der den leblosen Kevin S. im Laden fand.

Seit dem Anschlag kämpfte er dafür, dass der Kiez-Döner als Ort der Erinnerung erhalten bleibt. Er engagiert sich gegen Rechtsextremismus und wirbt mit anderen Betroffenen und Überlebenden für mehr Solidarität. "Ich habe Schmerzen, nicht, wie Kevins Vater Schmerzen hat. Aber wenn mein Schmerz so groß ist, wie groß ist dann sein Schmerz? Dann kämpfe ich dafür, dass sowas nicht noch einmal passiert," erzählt Tekin.

Den Kiez-Döner von vor drei Jahren gibt es heute nicht mehr. Das Geschäft wurde umgebaut und in "Tekiez" umbenannt. Ein Jahr dauerte der Umbau, den Spenden und die Hilfe einer um Ismet gegründeten "Soli-Gruppe" möglich machten. "Das sind die tollsten Menschen, die ich in Deutschland erlebt habe. Die geben mir Kraft", sagt Tekin in einem der wenigen Momente im Interview, in denen er strahlt.

"Tekiez" als Ort der Erinnerung – gibt es Hoffung oder ist er verloren?

Die vergangenen drei Jahre haben ihn erschöpft, das ist ihm anzusehen. Einerseits ist da das eigene Trauma, das er verarbeiten musste. Alles, was er erlebt und gesehen hat am 9. Oktober 2019. Da ist die Enttäuschung, dass das Gericht im Prozess gegen den Attentäter seinen Fall nicht auch als versuchten Mord anerkannte. Mit seinem Anwalt legte Ismet Tekin Revision am Bundesgerichtshof ein. Dieser wies die Revision zurück, erkannte keine Rechtsfehler.

Und andererseits ist da "Tekiez". Gerade für die Überlebenden des Anschlags aus der Synagoge oder Angehörige wie Kevins Vater sollte der "Tekiez" ein Ort zur Erinnerung, Begegnung und Austausch werden. Geplant waren aber auch Bildungs-Veranstaltungen. Finanzieren sollten das die Einnahmen eines integrierten Frühstücks-Cafés. "Man kann deutschlandweit einen Kaffee trinken, eine Cola trinken – überall. Aber dort war nicht überall. Das war der einzige Laden in Halle mit Bedeutung. Der Kaffee hat zwei Euro gekostet, aber war zwei Millionen wert," erzählt Tekin. Darauf wollte er die Menschen aufmerksam machen. Doch wie schon kurz nach dem Anschlag blieb auch nach dem Umbau, der Eröffnung, mitten in der Coronapandemie die Kundschaft aus. Im Mai meldete Ismet Tekin sein Gewerbe ab.

Er ist enttäuscht, dass von der Politik die Bedeutung dieses Ortes nicht erkannt wurde. Er sagt, dass bis heute nicht alle Betroffenen des Anschlags, alle Anschlagsorte die gleiche Anerkennung bekommen – wie beispielsweise auch Wiedersdorf. Das Dorf liegt etwa zehn Kilometer von Halle entfernt. Beim Versuch, ein Auto zu erpressen, verletzte der Attentäter dort zwei Menschen schwer.

"Ich komme ungerne, aber auch gerne"

"Ich komme ungerne, aber auch gerne. Das ist irgendwie so kompliziert. Alles, was wir reingesteckt haben, das hat uns viel Kraft gekostet und das tut weh," erzählt Ismet Tekin während des Interviews vor den verschlossenen Türen des "Tekiez". Auch wenn das Frühstücks-Café geschlossen ist, kommt er immer noch ein bis zwei Mal pro Woche vorbei.

Er und die "Soli-Gruppe" haben noch nicht völlig aufgegeben. Der "Tekiez" soll als Ort erhalten bleiben. Kurzfristig konnte die Miete durch Gelder der Mobilen Opferberatung und der Amadeu Antonio Stiftung gesichert werden. Langfristig hoffen sie auf eine Projekt-Förderung durch den Bund.

Jüdische Gemeinden spielen heute eine größere Rolle im Gesellschaftsleben

Auch für die jüdischen Gemeinden hat sich in den vergangenen Jahren viel verändert – nicht nur in Sachen Sicherheit. "Also es gibt jetzt sehr viele Projekte, die gestartet sind, sowohl in diesem Jahr als auch früher, also nach dem Anschlag," sagt Max Privorozki. Dazu zähle für ihn vor allem der Religionsunterricht Judentum, der im Rahmen eines Modellprojekts seit August 2021 an zwei Grundschulen stattfindet. "Wir haben gekämpft, und jetzt gibt es in Halle diesen Religionsunterricht." Aber auch den seit September tätigen Polizeirabbiner oder die jüdischen Kulturtage auf Landesebene hebt er hervor.

"Die jüdische Gemeinschaft wird jetzt nicht mehr nur als, sage ich mal, drei Gemeinden, die es irgendwo gibt, wahrgenommen, sondern spielt wirklich eine wesentlich größere Rolle im Gesellschaftsleben," sagt Privorozki, der auch Vorsitzender des Landesverbands Jüdischer Gemeinden in Sachsen-Anhalt ist. Ob all das auch ohne den Terroranschlag vom 9. Oktober 2019 möglich gewesen wäre? Privorozki möchte das nicht kommentieren. Er ist einfach froh, dass das heute möglich ist.

"Nach dem Anschlag war ich, was den Zustand in der Gesellschaft betrifft, optimistischer als vor dem Anschlag. Weil ich gesehen habe, dass die guten Menschen die absolute Mehrheit hier sind, und das hat Hoffnung gemacht."

Auch heute sei das noch so – obwohl die Zahl antisemitischer Straftaten in Deutschland einen erneuten Höchststand erreicht hat. "Für mich spielen diese Zahlen eine untergeordnete Rolle. Für mich sind die Fälle wichtig, die ich sehe bzw. meine Gemeinde oder unser Landesverband," sagt Privorozki. Aber: "Ich sehe insgesamt ein sehr negatives Potenzial in der Gesellschaft jetzt. Das hat aber nicht nur was mit Antisemitismus zu tun, sondern Ereignissen wie Corona, dann Corona-Leugner, dann jetzt Krieg in Europa."

Gerade die Führungen, die seine Gemeinde regelmäßig gibt, die auch am Denkmal im Innenhof der Synagoge vorbeiführen, sieht er als wichtigen Bestandteil der Antisemitismus-Bekämpfungen an. "Ich hoffe, dass diejenigen, die unsere Synagoge besuchen, die diese Führungen besuchen, dass sie irgendwie geimpft werden gegen Antisemitismus. Weil sie sehen, dass wir ganz normale Menschen sind. Wir haben eine Religion, die anders ist als das Christentum, aber ansonsten sind wir ganz normale Menschen wie andere auch."

MDR (Marie-Kristin Landes)

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR Exakt - die Story | 05. Oktober 2022 | 20:45 Uhr

18 Kommentare

Karl Schmidt am 07.10.2022

Ich denke, dass die beiden Opfer vom wahnsinnigen Antisemiten Stephan B. erschossen wurden. Nicht erst seit dieser Tat vertraute ich solchen "Kameraden" nicht mal nur bedingt.

DER Beobachter am 06.10.2022

Steht unten schon, Hilfloser: Weil nicht wenige von euren Anführern und Mitlatschern von der Bühne herab, durchs Gebahren und hiesige Kommentare Rechtsextremismus und rechtsextremen Antisemitismus systematisch verharmlosen mit ihren krampfigen widerlichen Opferanalogien ...

Ein Dorfjunge am 06.10.2022

Narben bleiben Narben, Narben verheilen nicht, Narben sind ständig sichtbar und fühlbar und Narben können auch immer wieder Schmerzen verursachen. Die gilt nicht nur im körperlichen Bereich sondern auch im Seelischen, vor allen im Seelischen, denn Schmerzen die durch Narben an Armen oder Beinen entstehen können auch mal ausgeblendet werden, doch Narben die in der Seele vorhanden, lassen sich nicht ausblenden.

Aber wer meint die angesprochenen Punkte des Rabbiner ausblenden zu können und ihm sowie allen anderen Opfern vorschreibt wie sie zu Trauern haben, zeigt dass es nicht um Empathie oder Mitgefühl geht, sondern dass eine schrecklicke, rechtsextremistische Tat deren Wurzel im faschistischen Gedankengut und Querdenkertum zu suchen ist, relativiert und geleugnet werden soll.
Wir haben seit vielen Jahren Gruppierungen im Land welche tagtäglich Hetze und Lügen verbreiten, zu Gewalttaten aufrufen und Gewalttaten relativieren. Halle war und ist kein Einzelfall.

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