Schatten in der Dämmerung
In Halle gibt es wieder mehr Fälle von Jugendkriminalität. Wir beantworten aktuelle Fragen zum Thema. (Symbolbild) Bildrechte: IMAGO / Rolf Poss

Fragen und Antworten Jugendkriminalität in Halle: Viele Probleme, wenig Lösungen

23. September 2023, 11:59 Uhr

Jugendkriminalität ist in Halle mittlerweile seit zwei Jahren ein Problem. Nachdem die Fälle Anfang des Jahres zurückgegangen waren, gibt es seit Beginn des Schuljahres wieder mehr Straftaten. Im Überblick: Wer die Täter sind, wer betroffen ist, was Stadt und Polizei tun – und was zu kurz kommt.

Wie sind die Fallzahlen?

Von Oktober 2021 bis Dezember 2022 gab es in Halle knapp 400 Ermittlungsverfahren im Zusammenhang mit Jugendkriminalität – vorwiegend mit Raub- und Körperverletzungsdelikten.

In der ersten Jahreshälfte 2023 hatten sich dann die Fallzahlen nach Polizeiangaben nach auf niedrigem Niveau bewegt. Auch die Stadt Halle sprach noch im Juni von einem rückläufigen Trend.

Doch offenbar kehrt sich der Trend um: Die Ermittler gehen seit Sommer von einer hohen Dunkelziffer aus. Polizeisprecher Michael Ripke sagte MDR SACHSEN-ANHALT, man vermute, dass seit Schuljahresbeginn viele Straftaten nicht mehr angezeigt werden: "Das hat auch damit zu tun, dass die Opfer erheblich unter Druck gesetzt werden." So sollen Täter etwa die Ausweise der Geschädigten abfotografiert und mit Besuch gedroht haben, erklärte die Polizei weiter.

Laut Zahlen des Innenministeriums sind im Jahr 2023 bis einschließlich August 518 Fälle von Gewaltkriminalität unter Kindern und Jugendlichen registriert, mit insgesamt 484 Tatverdächtigen. Zum Vergleich: Im Jahr 2019 seien es 388 Fälle mit 342 jungen Tatverdächtigen gewesen.

Kinder- und Jugendgewalt in Halle: Zahlen des Innenministeriums

Unter den im Jahr 2023 bis Anfang September registrierten Delikten sind laut Innenministerium:

  • 305 Fälle von Körperverletzung
  • 148 Fälle gefährlicher und schwerer Körperverletzung
  • 57 Raubdelikte

Was sagen Betroffene?

"Ich hab' das Gefühl, dass die Polizei völlig überfordert ist", sagt Georg Hofmann, dessen Sohn überfallen worden war. Sein Eindruck ist auch, dass die Behörden kaum eine Handhabe haben.

Ähnlich denken auch andere Eltern – und fühlen sich im Stich gelassen. So hat sich eine Bürgerinitiative gegründet, die ihrerseits für sichere Schulen sorgen will, indem sie Verdächtiges dokumentiert und der Polizei weiterleitet. Ihr Vorwurf, die Behörden seien überfordert, wies die Stadtverwaltung Halle zurück. Die Polizei gab ihrerseits den Hinweis, sie allein sei für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit zuständig. "Ein Eingreifen Dritter könnte schnell deren Kompetenzen überschreiten und Ermittlungserfolge gefährden", erklärte Polizeisprecher Ripke.

Wer sind die Täter?

Wie das Innenministerium mitteilte, hat die zuständige Ermittlungsgruppe "Cornern" in Halle seit April 2022 706 Ermittlungsverfahren bearbeitet. Davon konnten demnach 432 – also rund 60 Prozent – aufgeklärt werden. Momentan werde gegen 302 Personen ermittelt, darunter vornehmlich Kinder und Jugendliche zwischen 13 und 18 Jahren. Von den Tatverdächtigen haben laut Innenministerium 165 deutsche Staatsangehörigkeit, knapp 55 Prozent. Die weiteren 137 Tatverdächtigen seien nichtdeutsche Staatsangehörige.

Laut Polizeisprecher Michael Ripke konnte die Ermittlungsgruppe bislang 274 Personen eine Tatbeteiligung nachgewiesen werden. "Circa 40 Prozent" davon, so Ripke im MDR, haben einen Migrationshintergrund. Diese Zahl bezieht sich auf den gesamten Zeitraum, also gut zwei Jahre. Zuletzt war der Anteil gestiegen. Die Polizei sprach seit Beginn des neuen Schuljahres von mutmaßlichen Täter überwiegend mit Migrationshintergrund. Es soll auch viele Wiederholungstäter geben. "Die Täter sind grundsätzlich im Altersbereich von 13 bis 19 Jahren", sagte Ripke.

Ist es ein Migrationsproblem?

Da laut Polizei 40 Prozent der ermittelten Personen einen Migrationshintergrund haben, sehen viele hierin ein Problem. Gewaltforscher Dirk Baier von der Hochschule Zürich widerspricht. Im MDR-Interview erklärt er: "Wir haben es hier nicht mit einem Migrationsproblem zu tun, sondern mit einem Jugendkulturproblem. Junge Menschen sind eher der Meinung, dass sie wieder Gewalt anwenden müssen, dass sie sich wie richtige Männer verhalten müssen, sich durchsetzen müssen." Das habe nicht unbedingt etwas mit Migration zu tun.

Ähnlich äußerte sich der Vorsitzende des Migrantenbeirates in Halle, Waseem Aleed. Bei der Gewalt handele es sich um ein Problem der Jugend, nicht um ein hauptsächlich migrantisches Problem. Auch unter den Opfern der Taten gebe es einen großen Ausländeranteil. Aleed sagte, der Rechtsstaat müsse härter durchgreifen. Zudem brauche es in Halle einen Raum für Jugendliche, um anderweitig Adrenalin zu bekommen und ihre Energie loszuwerden.

Was macht die Polizei?

Die Polizei hat ihre Präsenz mit Schuljahresbeginn deutlich erhöht. So stehen in Halle derzeit Polizeiautos vor mehreren Schulen. Aber auch Beamte in zivil sind unterwegs. Dem Innenministerium zufolge sind keine weiteren Vorfälle polizeilich bekannt geworden, seitdem die Polizeipräsenz Mitte September erhöht wurde.

Im April 2022 wurde die Ermittlungsgruppe "Cornern" gegründet, in der sich Ermittler der Kriminalpolizei speziell mit Jugendkriminalität beschäftigen und die zu schnellen Verfahrensabschlüssen führen soll. Ziel ist, in Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft möglichst schnell Konsequenzen für Taten folgen zu lassen.

Wieso gibt es nicht mehr und härtere Verurteilungen von Tätern?

Bekannt wurden zuletzt im Sommer zwei Verhandlungen, bei denen Jugendliche aus Syrien und Afghanistan jeweils zu Bewährungsstrafen verurteilt wurden, die aber vorher fünf Monate U-Haft abgesessen hatten.

Höhe und Art der Strafen gibt hierbei das Jugendstrafrecht vor. Dieses verfolgt mehr den Erziehungsgedanken im Sinne der jugendlichen Täter – und weniger die Buße im Sinne der Gesellschaft. Nach Angaben des Innenministeriums bearbeiten die Staatsanwaltschaften die Verfahren der Jugendkriminalität besonders schnell. Von Ermahnungen über Arreste und Dauerarreste bis hin zu Jugendhaftstrafen würden alle Möglichkeiten des Jugendstrafrechts ausgeschöpft.

Was weitere Anklagen angeht, verweist die Polizei auf MDR-Nachfrage auf die rechtsstaatlichen Abläufe. So brauche es zunächst ausreichend Beweismittel gegen mögliche Tatverdächtige.   

Um Vorfälle verfolgen zu können, bittet die Polizei darum, Angriffe konsequent zur Anzeige zu bringen. "Wenn wir es nicht wissen und nicht handeln können, werden die Täter keine Folgen spüren", so Polizeisprecher Ripke. Auch das Innenministerium ruft dazu auf, Straftaten anzuzeigen, damit diese aufgeklärt werden und die Polizei reagieren kann.

Was unternimmt die Politik?

Die Stadt Halle sucht fortlaufend nach einer Lösung, ein Sicherheitskonzept sollte erstellt werden. Doch klar ist: Ein Patentrezept mit einer Universallösung gibt es nicht. Das hat Tobias Teschner, Fachbereitsleiter für Sicherheit der Stadt Halle, dem MDR erklärt. Nachgedacht wird über ein sogenanntes "Haus des Jugendrechts", bei dem Verbände, Polizei und Staatsanwaltschaft unter einem Dach eng zusammenarbeiten.

Auch landespolitisch spielt Jugendgewalt eine Rolle. Landesweit gab es 2022 insgesamt 1.295 Fälle, so die Kriminalstatistik, was einem Anstieg von fast einem Viertel entspricht. Innenministerin Tamara Zieschang zeigte sich hier Anfang des Jahres besorgt.

Am 21. September hatte der Innenausschuss des Landtags zusammengesessen. Das Thema Jugendkriminalität sollte per Antrag mit auf die Agenda gesetzt werden. Doch dazu kam es nicht. Die CDU lehnte den Antrag des SPD-Innenexperten Rüdiger Erben ab. Als Grund erfuhr MDR SACHSEN-ANHALT, dass die Tagesordnung ohnehin vollgepackt gewesen sei. Bei der nächsten Tagung Ende Oktober soll das Thema dann aber eine Rolle spielen – zuletzt war dies im Februar der Fall.

Wie das Innenministerium zuletzt mitteilte, lädt Ministerin Zieschang am 2. Oktober zu einem Gipfeltreffen ein. Dort soll es eine gemeinsame fach- und ressortübergreifende Beratung mit der Stadt Halle und mehreren Ministerien geben. Beteiligt seien neben dem Innenministerium die Ministerien für Justiz, Soziales und Bildung.

Was kann außerdem getan werden?

Die Schulen und Streetworker versuchen bereits gegenzusteuern – mit Aufklärungsarbeit und Betreuungsangeboten. Zahlreiche andere Organisationen setzen sich für Teilhabe und Integration von Jugendlichen ein. Doch auch hier werden Probleme gesehen. Anna Manser von der Halleschen Jugendwerkstatt sagte dem MDR: "Wir reagieren erst, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, in dem Fall, wenn die Täter richtig brutal und aggressiv auf andere losgehen. Dann schreien wir alle auf, aber nicht, wenn diese Jugendlichen vorher auf der Straße rumgammeln, die 6. Klasse abgebrochen haben und sich keiner zuständig fühlt."

Das Plädoyer, sich bereits zeitiger um Problem-Jugendliche zu kümmern, unterstreicht auch Gewaltforscher Baier. Schnelle Verurteilungen von Tätern entsprächen zwar dem Wunsch der Bevölkerung, angesetzt werden müsse aber eher. "Langfristig geht es darum, zu investieren – in Schulen, in Vereine, in Jugendsozialarbeit. Das ist leider ein Stück weit teuer, das geht nicht schnell – aber das sind die wissenschaftlichen Erkenntnisse."

dpa, MDR (Fabian Brenner, Jochen Müller, André Plaul) | erstmals veröffentlicht am 22.09.2023

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 22. September 2023 | 08:10 Uhr

32 Kommentare

SG aus E vor 33 Wochen

‹Vox Populi› schrieb: "60 % Bio-Deutsche und 40 % Migranten"

O.K., aber 100 % Jugendliche. Merken Sie was? Das ist bei einem Artikel über Jugendkriminalität natürlich nicht verwunderlich. Was mir dabei auffällt: Einige nehmen bei ihren Mitmenschen, egal um was es geht, zuerst deren Herkunft wahr. Alles andere wird dann zweitrangig. Ich nenne solche Menschen Rassisten.

Britta.Weber vor 33 Wochen

Fakt, ein Rechtssystem beruht auf dem Wertekanon der Gesellschaft. Da dieser bei Migranten anders ist, sind Anpassungen nötig. Straftaten wie Taharrush Gamea wurden importiert und erfordern neue Strafen - das hat aber unser Rechtssystem bislang nichrt getan.

Fakt vor 33 Wochen

@steka:

Veraltet ist wohl eher das von Ihnen gewünschte "Rechtssystem"!
Leben Sie eigentlich noch im 18. oder doch schon im 19. Jahrhundert? Das 21. kann es kaum sein.

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