Mamad Mohamad ist in Halle Geschäftsführer des Landesnetzwerks Migrantenorganisationen. Er hat graue Haare und Bart und ein kariertes Hemd an.
Mamad Mohamad ist Geschäftsführer des Lamsa in Sachsen-Anhalt. Bildrechte: MDR/Julia Heundorf

Landesnetzwerk Migrantenorganisationen Nach Correctiv-Recherche: "Wir brauchen mehr Politik der Emotionen"

02. März 2024, 13:16 Uhr

Mamad Mohamad führt in Halle die Geschäfte des Landesnetzwerkes der Migrantenorganisationen. Im Interview erzählt er, wie die Recherche sein Leben verändert hat. Er sagt, ein AfD-Parteiverbot wäre ein starkes Signal, warnt jedoch auch, dass die Ideologie nicht verboten werden kann. Mohamad wünscht sich mehr "Politik der Emotionen" von anderen Parteien und mehr Einsatz für Minderheitenrechte von Menschen ohne Migrationshintergrund.

Mamad Mohamad ist mit 16 aus Syrien nach Deutschland gekommen. Er ist Geschäftsführer des Landesnetzwerks Migrantenorganisationen in Sachsen-Anhalt (Lamsa). Als unbegleiteter Minderjähriger kam er nach Halberstadt, von dort nach Halle. Seitdem lebt er in der Saalestadt. Er hat Abendschule und das Fachabitur gemacht und dann Sozialpädagogik an der Fachhochschule Merseburg studiert. Jesidische Kurden und Kurdinnen wie er haben in Syrien Unterdrückung erlebt, sagt er, und tun es noch.

Mohamad setzt sich in Sachsen-Anhalt für Menschen mit Migrationshintergrund und ihre Rechte ein. Im Januar wurde bekannt, dass sich Rechtsextreme, konservative Politiker und Unternehmer, darunter auch der Vorsitzende der AfD-Fraktion Sachsen-Anhalt, Ulrich Siegmund, in Potsdam getroffen haben. Dort sollen unter anderem Pläne zur massenhaften Ausweisung und Vertreibung von Menschen mit Migrationshintergrund vorgestellt worden sein. Siegmund verteidigt sich mit dem Hinweis, er sei als Privatperson dabei gewesen. Am Tag der Veröffentlichung bricht für Mamad Mohamad etwas Grundlegendes weg.

MDR SACHSEN-ANHALT: Am 10. Januar ist die Correctiv-Recherche über das Geheimtreffen zur "Remigration" veröffentlicht worden. Was hat sich an diesem Tag für Sie geändert?

Mamad Mohamad, Geschäftsführer des Landesnetzwerks Migrantenorganisationen in Sachsen-Anhalt: Ich habe mir ein paar Gedanken dazu aufgeschrieben. Unsere Gesellschaft ist auf einer Vielzahl von Werten aufgebaut, die als Grundlage für eine funktionierende, demokratische, pluralistische Gesellschaft dienen. Beispielsweise individuelle Freiheit, Gleichheit vor dem Gesetz, Gerechtigkeit, Respekt, Relevanz, Solidarität, Demokratie und der Schutz von Menschenrechten – unverzichtbar. Als die Correctiv-Recherche rausgekommen ist, war das plötzlich alles weg.

Auf welcher Grundlage sollen wir zusammenleben, streiten, Kompromisse finden, wenn unsere Existenz nicht anerkannt wird?

Mamad Mohamad Geschäftsführer des Landesnetzwerks Migrantenorganisationen in Sachsen-Anhalt

Für mich war das ein Punkt, wo ich das Gefühl hatte, alles woran wir uns festgehalten haben, war weg. Mit den rassistischen Plänen von der AfD und deren Enthüllung waren die ganzen Werte für mich einfach weggefallen. Auf welcher Grundlage sollen wir zusammenleben, streiten, Kompromisse finden, wenn unsere Existenz nicht anerkannt wird, wenn wir ein Plan sind von einer rassistischen Partei. Das war für mich so ein Punkt, wo ich das Gefühl hatte, diese gesamten Grundwerte sind aus meiner Sicht verschollen.

Im Zentrum der Recherche und der folgenden Diskussion steht die Teilnahme der AfD. Schon vorher wurde ein Parteiverbotsverfahren diskutiert. Würden Sie sich das wünschen?

Ich habe dazu zwei Gedanken im Kopf. Ich finde, dass es schon wichtig wäre, dass ein klares Signal gesetzt wird, dass Diskriminierung und Rassismus keinen Platz haben in unserer Gesellschaft. Wenn eine Partei sowas täglich rausposaunt und die Existenz von Minderheiten, die Existenz von Menschen mit Migrationshintergrund aberkennt, dann darf sie nicht in Deutschland in Parlamenten und auch Stadträten sitzen. Das fände ich ein starkes Signal. Und ich fand auch ein starkes Signal, als Siegmund im Landtag als Sozialausschussvorsitzender abgewählt wurde. Das ist vom Landtag selber ausgegangen und zeigt, dass der in der Lage ist, sich zu regenerieren und zu korrigieren.

Aber die Ideologie dahinter ist durch ein Verbot nicht aufgehoben. Das ist ein bisschen die Sorge. Mittlerweile sind 34 Jahre seit der Wende vergangen und wir haben immer noch keine migrantische Zivilgesellschaft in Ostdeutschland. Von 180.000 Menschen mit ausländischer Herkunft in Sachsen-Anhalt lebt die Hälfte erst seit vier Jahren hier.

Es ist für mich ein Armutszeugnis, ehrlich gesagt. Ich bin ja mittlerweile 28 Jahre hier. Ich gucke nach rechts und nach links: Ich finde niemanden, der mit mir gekommen ist, es sind alle weggezogen. Und das heißt: Es gibt eine Abwanderung, wir sind kein Einwanderungsland, wir sind ein Zuweisungsland in Sachsen-Anhalt.

Da ist also die Frage der Ursache: Warum gehen die Menschen aus Sachsen-Anhalt weg? Warum wandern die eigentlich aus? Das ist die Antwort auf diese Frage. Weil es eben in einem großen Teil der Gesellschaft in Sachsen-Anhalt Rassismus und einen Rechtsruck gibt. Und es zeigt sich ja auch: Trotz der Correctiv-Recherche steigt der Zulauf: Die Zahl der Parteimitgliedschaften bei der AfD ist am Ende gestiegen. Es ist nicht so, dass wir sagen können: Die Menschen sind wach geworden. Ich finde das irgendwie ein bisschen beängstigend.

Im ARD-Deutschlandtrend haben kürzlich 51 Prozent der Befragten gesagt, sie halten es für "nicht angemessen", ein Verbotsfahren gegen die AfD einzuleiten. Was würden Sie den Menschen sagen?

Es gibt einen Spruch: Wer die Schläge bekommt, ist nicht der, der sie zählt. Also wer die Schläge bekommt, hat die Schmerzen und hat natürlich auch als Betroffener eine andere Perspektive als die, die nicht betroffen sind. Ich finde, im Blick auf die Minderheitenrechte sollte man überlegen, was es bedeuten würde, Menschen, die einfach von dieser Ideologie betroffen sind – von rechtsextremer Ideologie –, wie man die auch schützen kann.

An der Stelle muss man überlegen, wer die 51 Prozent sind und wieso deren Perspektive auch so ist, dass sie vielleicht doch den Entzug der Minderheitsrechte akzeptieren würden. Da geht es um gesellschaftliche Verantwortung.

Noch eine Zahl: Sachsen-Anhalt wählt 2026, Sachsen wählt dieses Jahr. Bei der Sonntagsfrage bekommt die AfD 35 Prozent. Wenn jetzt in Sachsen-Anhalt Wahlen wären und die AfD bekäme 35 Prozent, wäre das für Sie auch ein Grund zu gehen?

Nach der Enthüllung von Correctiv überlegen wir alle wegen eines Plans B. Wir haben vorher schon immer gesagt: Plan B ist irgendwie wichtig, aber es gab noch die Grundwerte. Da können wir immer drauf zurückgreifen und sagen: Moment mal – es gibt diese Brandmauer und die Brandmauer sind die Grundwerte. Und ja: Ich und viele Menschen mit Migrationshintergrund, bei Lamsa, denken über einen Plan B nach. Das Schlimme daran ist: Viele Geflüchtete, die nach Sachsen-Anhalt gekommen sind, haben keinen Plan B. Plan B war Sachsen-Anhalt.

Viele Geflüchtete, die nach Sachsen-Anhalt gekommen sind, haben keinen Plan B. Plan B war Sachsen-Anhalt.

Mamad Mohamad Geschäftsführer des Landesnetzwerks Migrantenorganisationen in Sachsen-Anhalt

Die Leute haben einfach viel durchgemacht, die Flucht vor Terror und Folter und haben Zuflucht in Sachsen-Anhalt gefunden. An der Stelle ist mir wichtig, dass man sich bewusst macht, dass Menschen einfach zur Ruhe kommen wollen mit ihrer Familie. Sie wollen in der Gesellschaft ankommen und ein Teil der Gesellschaft werden. Es ist mir wichtig, dass man sich bewusst macht, was die Leute für Rucksäcke mitschleppen.

Was wünschen Sie sich von anderen Parteien und von der Zivilgesellschaft jetzt gerade?

Unsere Erwartung ist es, dass weniger die Betroffenen im Fokus stehen, sondern die Zivilgesellschaft die Aufgabe übernimmt und die Parteien die Aufgabe übernehmen, weil unsere Erfahrung ist, dass die Frage kommt: Was wollen die Menschen mit Migrationshintergrund? Wie geht es diesen Menschen in Sachsen-Anhalt? Da gebe ich immer die Frage zurück: In welcher Gesellschaft wollt IHR eigentlich leben? Wir sind Teil dieser Gesellschaft. Also ich frage immer zurück: Wie wollt ihr selbst in Zukunft leben, also ihr Menschen ohne Migrationshintergrund?

Wie wollt ihr selbst in Zukunft leben, also ihr Menschen ohne Migrationshintergrund?

Mamad Mohamad Geschäftsführer des Landesnetzwerks Migrantenorganisationen in Sachsen-Anhalt

Ich glaube, dass es an der Stelle wichtiger ist, dass Teile der Zivilgesellschaft, auch bestehende Parteien, mal überlegen müssen: Welche gesellschaftlichen Werte wollen wir die nächsten Jahre verteidigen und auch behalten?

Und von der Politik und Parteien?

Ein Beispiel: Das Innenministerium hat uns am Freitag zur Bezahlkarte eingeladen. Eigentlich kommt das Gesprächsangebot zu spät. Normalerweise redet man vorher mit zivilgesellschaftlichen Akteuren, bevor man das Ganze ausschreibt und eine Pressemitteilung rausgibt und so weiter. Unsere Forderung ist, dass Beteiligung und partizipative Prozesse schon vorher stattfinden.

Das ist das eine. Und wir brauchen irgendwie eine Garantie für das "nie wieder". Das muss einfach garantiert sein. Die Erwartung, die wir an Parteien und Politik haben, ist dieser Punkt: "Nie wieder" muss einfach garantiert werden. Ich glaube, alles andere ist für uns gar keine Grundlage mehr.

Ob das durch ein Parteiverbot ist, ob durch andere politische Maßnahmen – da muss die Politik dann an der Stelle über die richtigen Maßnahmen nachdenken. Aber die Menschen wollen einfach in Frieden in der Gesellschaft leben und ihren Beitrag leisten. Aber sie haben täglich die Sorge, dass sie gefährdet sind, haben Angst vor Diskriminierung und Ausgrenzung, sogar physischer Gewalt. Das ist einfach unerträglich.

Meine Angehörigen fragen immer noch, ob ich lebensmüde bin, in Ostdeutschland zu leben.

Mamad Mohamad Geschäftsführer des Landesnetzwerks Migrantenorganisationen in Sachsen-Anhalt

Und die Sorgen sind berechtigt. Haben Sie mitbekommen, als vergangene Woche die Frau aus Burkina Faso in Dessau vom Fahrrad gestoßen wurde? Ich meine, die Sorgen, die wir jetzt haben, sind nicht aus der Luft gegriffen. Und das spricht sich schnell herum: Wenn sowas passiert, können Sie darauf warten, innerhalb von kurzer Zeit gehen zehn Familien nach Westdeutschland. Sie wollen anonym sein, einer von vielen. Wenn es Angehörige in Westdeutschland gibt, machen die auch Druck. Meine Angehörigen fragen immer noch, ob ich lebensmüde bin, in Ostdeutschland zu leben.

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Wir brauchen diese Klarheit von politischen Parteien, von den demokratischen Parteien, dass die Menschen hier in Sachsen-Anhalt willkommen sind, dass sie geschützt sind, dass sie alles dafür tun, dass sie keine Diskriminierung erleben, keine Ausgrenzung und keine physische Gewalt.

Was gibt Ihnen Hoffnung?

In Halle waren 16.000 Menschen gegen Rechtsextremismus auf der Straße, auch in vielen anderen Städten in Sachsen-Anhalt gab es Demos. Ich glaube, es macht mir Hoffnung, dass die Menschen aufstehen und es ihnen nicht egal ist. Vorher hat man immer gesagt, die Leute wollen die AfD und rechte Gruppen entzaubern. Diese Wortwahl haben wir oft gehört, "entzaubern". Ich glaube, ich hoffe, es macht Hoffnung, dass die Menschen verstanden haben, dass das nicht funktioniert.

Wir machen viel Sachpolitik. Wir brauchen mehr Politik der Emotionen. Das ist es genau, was die AfD mit den Menschen macht: Tiktok und diese ganzen Netzwerke"echte Männer wählen rechts." (Anspielung auf ein Tiktok-Video von AfD-Europakandidat Maximilian Krah, Anm. der Redaktion.) Da kann man nur überlegen: Was ist das? Aber ich glaube, wir brauchen auch als Zivilgesellschaft eine Politik der Emotionen. Diese Bündnisse und die ganzen Demos waren ein wichtiges Signal, dass wir das entwickeln.

Und dass die Menschen merken: Es geht nicht nur um die Frage, ob Herr Mohamad morgen da ist oder nicht. Es geht um die Frage, in welcher Gesellschaft möchte ich selbst leben. Und es geht nicht um die Frage, ob Menschen mit Migrationshintergrund noch morgen meine Nachbarn sind oder meine Arbeitskollegen oder das Kind im Kindergarten oder mein Schulfreund oder meine Schulfreundin sind.

Es geht nicht nur um die Frage, ob Herr Mohamad morgen da ist oder nicht. Es geht um die Frage, in welcher Gesellschaft möchte ich selbst leben.

Mamad Mohamad Geschäftsführer des Landesnetzwerks Migrantenorganisationen in Sachsen-Anhalt

Sondern es geht darum: Welche Gesellschaft müssen wir mir und meinen Kindern und meinen Enkelkindern hinterlassen? Das macht mir Hoffnung, dass das vielleicht angekommen ist nach der Enthüllung. Das war mir bis dahin nicht ganz klar, ob das überhaupt den Menschen bewusst ist.

Würden Sie gern mit der AfD reden und was würden Sie ihnen sagen?

Ich sitze in einigen Ausschüssen mit denen, also Landtagsabgeordneten der AfD. Die Sache ist, sie sind sehr geschickt in ihrer Argumentation. Wenn die mir einen guten Tag sagen, weiß ich, dass sie keinen schönen Tag wünschen.

Ich kann nur mit einer Partei reden, die unsere freiheitlich demokratische Grundordnung anerkennt. Mit einer gesichert rechtsextremen Partei, die das demokratische Staatssystem umstürzen will, wüsste ich nicht, worüber ich da reden soll. Wenn die Existenz der Menschen hier nicht anerkannt wird, sehe ich die Grundlage einfach nicht, ehrlich gesagt.

MDR San Mitarbeiterin Julia Heundorf
Bildrechte: MDR/punctum.Fotografie/Alexander Schmidt

Die Fragen stellte Julia Heundorf. Julia Heundorf macht Reportagen, Nachrichten und Social-Media-Beiträge aus Sachsen-Anhalt, vor allem zu Themen rund um Gleichstellung, Diskriminierung und Bildung im Land: Sie erzählt etwa, wie junge Frauen in Magdeburg durch sexuelle Belästigung gedemütigt werden und was die Landespolitik tut, um Frauen zu fördern.

Julia Heundorf kommt aus dem Landkreis Harz, hat in Halle und Frankfurt (Oder) studiert und in Italien, Bulgarien und Frankreich gelebt. Sie arbeitet seit 2020 bei MDR SACHSEN-ANHALT.

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MDR (Julia Heundorf)

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 22. Februar 2024 | 07:40 Uhr

73 Kommentare

hinter-dem-Regenbogen vor 9 Wochen

Zur allgemeinen Beruhigung, möchte ich noch mal darauf hinweisen, dass die Begrifflichkeit einer "Remigration" , kein rechtsradikaler Sprachgebrauch ist, sondern durchaus Bestandteil des allgemeinen Sprachgebrauchs, auch in den Amtsstuben des Landes ist.
Remigration beinhaltet weder "Vertreibung" noch "Deportation". Beides wurde diesem Begriff hinzu interpretiert - Aus welchen Gründen, weiß nur der Kampagnengestalter dazu.
Im Amt für Migration, in Rostock, gibt es einen Sachbereich für Remigration - übrigens schon seit ewigen Zeiten.

mein Fazit:
Wenn sich ausländische Bürger in Deutschland unwohl fühlen, Angst, womöglich sogar Depressionen haben, dann sollte man zunächst davon ausgehen , dass das viele Ursachen haben könnte ( Stichwort soziale Einbindung)

Ralf G vor 9 Wochen

Dermbacher - Eine rein rhetorische Frage. Sie wissen natürlich wer gemeint ist. Sicher nicht die Nachkommen eines fußkranken Landsknechtes, der im Dreißigjährigen Krieg hier hängen geblieben ist.

pwsksk vor 9 Wochen

Ich kenne noch die Bundestagsdebatten der 70er.
Strauß, Wehner, Kiesinger. Das waren Emotionen. Was heute stattfindet, ist doch teilweise nur noch Krakele ohne Hintergrund und Wissen.

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