Freiwillige in Sachsen-Anhalt Neue Trends im Ehrenamt: Mehr Engagement, weniger Verbindlichkeit
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04. März 2024, 10:58 Uhr
Betagte Menschen in Rikschas spazieren fahren, todkranken Kindern beistehen oder bei der Sanierung eines denkmalgeschützten Gebäudes helfen – Aufgaben für Ehrenamtliche gibt es in Sachsen-Anhalt genug. Doch viele Menschen wollen sich nicht mehr langfristig engagieren. Die Geschäftsführerin der größten Freiwilligenagentur Deutschlands in Halle erklärt, wie es um das Ehrenamt in Sachsen-Anhalt steht und welche drei Bereiche momentan besonders gefragt sind.
MDR SACHSEN-ANHALT: Frau Sattler, was wäre Sachsen-Anhalt ohne Ehrenamtliche – was würde konkret wegfallen?
Christine Sattler, Leiterin Freiwilligen-Agentur Halle-Saalkreis e.V.: Wo soll ich da anfangen? In kleinen Orten würde, wenn es brennt, niemand mehr zum Löschen kommen. Kinder würden noch weniger als heute Schwimmen lernen, könnten nicht in Sportvereinen aktiv werden. Manchen Kindern würde nie vorgelesen werden. Ältere Menschen wären viel einsamer. Bedürftigen Menschen würde es noch schlechter gehen, wenn es keine Ehrenamtlichen gäbe, die in der Obdachlosenhilfe freiwillig aktiv sind oder in der Tafel mithelfen.
Freiwilliges Engagement ist auf jeden Fall ein Fundament unserer Gesellschaft. Nicht nur die Gesellschaft wäre trister, sondern viele Dinge würden gar nicht möglich sein – im sozialen Bereich, im kulturellen Bereich, im Sportbereich.
Welche außergewöhnlicheren Ehrenämter gibt es?
In Halle hat beispielsweise eine Senioreneinrichtung Rikscha-Räder angeschafft – Ehrenamtliche fahren die alten Menschen damit spazieren. In einigen Mietertreffs gibt es virtuelle Touren durch bedeutende Museen, für Menschen, die die Technik nicht haben oder damit nicht umgehen können. Der Unisportverein sucht gerade Freiwillige, die Kindern das Flossenschwimmen beibringen.
Es gibt auch besonders voraussetzungsreiche und zeitintensive Engagements, die eine intensive Vorbereitung und Schulungen benötigen, wie zum Beispiel Telefonseelsorge, Familienbegleitung im Kinderhospiz und Katastrophenschutz.
Zum Aufklappen: Wo kann ich helfen? Einfach online herausfinden
Einen Überblick über die ganze Bandbreite ehrenamtlichen Engagements in Halle und aktuelle Gesuche finden sich über den Online-Engagementfinder der halleschen Freiwilligenagentur. Auch andere Freiwilligenagenturen und Engagementzentren in Sachsen-Anhalt veröffentlichen solche Engagementangebote, beispielsweise in Magdeburg.
Wer ist Christine Sattler? Christine Sattler leitet seit fast 20 Jahren die Freiwilligen-Agentur Halle-Saalkreis e.V. Die studierte Erziehungswissenschaftlerin verfolgte den Aufbau der Freiwilligen-Agentur während ihres Studiums. Der Impuls zur Gründung kam damals von Studenten und Dozenten der Erziehungswissenschaften in Halle. Nach einigen Jahren in der Wissenschaft wurde ihr die Leitung des Vereins angeboten.
Können Sie einschätzen, wie viele Ehrenamtliche es in Sachsen-Anhalt gibt?
Die aktuellsten Zahlen stammen aus dem Jahr 2019. Im Rahmen der größten bundesweiten Untersuchung – dem Freiwilligensurvey, das alle fünf Jahre durchgeführt wird – wurde gefragt: Wer engagiert sich freiwillig, ab 14 Jahren aufwärts? Und für Sachsen-Anhalt sind das 37,8 Prozent der Menschen, also mehr als jeder Dritte. Das entspricht zwischen 700.000 und 800.000 Menschen.
Sind alle Altersgruppen und sozialen Schichten engagiert?
Besonders häufig engagiert sind die ganz jungen, also die Menschen von 14 bis 19 Jahren. Dann die mittleren Alterskohorten, also Menschen, die voll im Berufsleben stehen, zwischen 30 und 49 Jahren. Und sehr engagiert sind auch Menschen, die gerade vom Berufsleben in die Ruhephase wechseln, von 65 bis 74 Jahren ungefähr.
Je höher das Einkommen und der Grad formaler Bildung, desto eher engagieren sich Menschen.
Je höher das Einkommen und der Grad formaler Bildung, desto eher engagieren sich Menschen. Arbeitslosigkeit geht deutlich seltener mit freiwilligem Engagement einher als eine Berufstätigkeit oder Ausbildung. Leben Kinder im Haushalt, ist freiwilliges Engagement wahrscheinlicher. Im Schnitt engagieren sich in Sachsen-Anhalt Männer etwas häufiger als Frauen. Auch diese Erkenntnisse stammen vom Freiwilligensurvey.
Größte Freiwilligenagentur Deutschlands
Die Freiwilligen-Agentur Halle-Saalkreis e.V. ist die größte Freiwilligenagentur in Deutschland. 34 Mitarbeiter arbeiten dort hauptamtlich, dazu kommen mehr als 300 Ehrenamtliche in verschiedensten Projekten. Im Beratungsladen am Boulevard in Halle können Interessierte herausfinden, welches Ehrenamt zu ihnen passt.
Im vergangenen Jahr gewann die Freiwilligen-Agentur den Publikumspreis der Goldenen Henne, der von der Zeitschrift "Super-Illu" und dem MDR vergeben wird. "Es ist unsere Leidenschaft, noch mehr freiwilliges Engagement zu ermöglichen – gemeinsam mit vielen Vereinen und Freiwilligen, Organisationen, Politik, Verwaltung und Wirtschaft", hieß es. Der im Jahr 1999 gegründete Verein feiert in diesem Jahr sein 25-jähriges Jubiläum. Er finanziert sich durch Spenden, Fördermittel, Zuwendungen von Stiftungen und Unternehmen sowie Mitgliedsbeiträge.
Wo gibt es richtig viel Engagement in Sachsen-Anhalt? Welche Bereiche haben gelitten?
Am rückläufigsten sind die Engagiertenzahlen in den Sportvereinen und Sportverbänden nach Zahlen einer großen Befragung aus dem Jahr 2023. Sie machen zahlenmäßig trotzdem den Großteil von Engagierten in Sachsen-Anhalt aus, gefolgt von den Bereichen Bildung, Kultur und Soziales.
Die größten "Engagementgewinner" sind Organisationen und Initiativen in den Bereichen Umwelt und Naturschutz, Bevölkerungsschutz und gemeinschaftliche Versorgungsaufgaben – sicher auch in Folge der Krisen in den letzten Jahren.
Gibt es einen Mangel an Ehrenamtlichen?
Ich glaube, nein. Die Engagementbereitschaft in der Bevölkerung ist wirklich groß. Ich glaube, dass wir bei der nächsten Untersuchung keinen Rückgang von Zahlen erleben werden. Wenn der Trend anhält wie in den letzten 20 Jahren, besteht große Hoffnung, dass die Engagementquote sogar noch weiter wächst, dass sich noch mehr Menschen freiwillig engagieren – auch wenn sich die Formen verändern, wo und wie sie sich engagieren.
Was ändert sich beim Engagement der Menschen in Sachsen-Anhalt?
Engagement findet mittlerweile häufiger anlassbezogen, spontan und kurzfristig statt. Menschen finden sich in eher informelleren Gruppen zusammen, in Bürgerinitiativen, in der Nachbarschaftshilfe, in selbstorganisierten Gruppen. Häufig sind es einfach Dinge, die vor der Tür wahrgenommen werden, wo Menschen der Meinung sind: Wir können hier etwas tun, wir schließen uns zusammen, wir organisieren kurzfristig etwas. Viele sind zum Beispiel sehr interessiert an Müllsammelaktionen.
Es wird zunehmend schwieriger, Engagierte für dauerhafte Aufgaben zu gewinnen.
Allerdings sinkt der Anteil von Menschen, die sich längerfristig, dauerhaft und in Leitungsfunktionen in Vereinen und Verbänden engagieren. Das erleben gerade vor allem die traditionellen Vereine und Verbände. Sie haben Schwierigkeiten, Engagierte für ehrenamtliche Leitungspositionen zu finden wie den Vereinsvorstand. Es wird zunehmend schwieriger, Engagierte für dauerhafte Aufgaben zu gewinnen und zwar über alle Engagementbereiche hinweg. Vereine im ländlichen Raum klagen weniger über Nachwuchsmangel, weil die Vereinsstruktur in den Orten gewachsen ist und Menschen automatisch hinkommen. In Städten ändern sich die Bereiche, wo Menschen aktiv werden.
Warum fehlt es an Freiwilligen, die eine Leitungsposition übernehmen?
Da zeigen die Untersuchungen, wo der Motivationshemmer ist: Vor allem ist es die Angst vor zunehmender Bürokratie, dem Verwaltungsaufwand im Vereinswesen, Unsicherheiten im Bezug auf Versicherungsfragen. Die Datenschutzgrundverordnung ist natürlich auch ein großes Thema, was auch Vereine bewegt.
Welche Ideen haben Vereine, um auch kurzfristig engagierte Menschen zu finden?
Hier in Halle gibt es beispielsweise den Schwemme e.V., der sich um die denkmalgeschützte Sanierung einer sehr alten Brauerei kümmert. Dort kann man ein Mal pro Woche hingehen und helfen, alte Dachziegel zu reinigen, damit sie wiederverwendet werden können. Das ist ein Angebot an Menschen, die nicht so viel Zeit und vielleicht auch nicht so viel Lust haben, sich dauerhaft zu engagieren. Die spontan sagen: Wo wird meine Hilfe gerade gebraucht?
Viele traditionellere Vereine und Organisationen stellen sich auf Veränderung ein. Sie machen sich Gedanken darüber, was sie Menschen, die sich nicht kontinuierlich engagieren möchten, für Angebote machen können – kurzfristig und anlassbezogen.
Ich glaube, Organisationen sind gut aufgestellt, wenn sie einen Angebotsmix für Freiwillige haben und sich in ihrem Freiwilligenmanagement verändern. Also bei der Frage, wie sie Menschen ansprechen, für Engagement gewinnen, in die Arbeit einbinden, gut begleiten und versuchen, sich auf die unterschiedlichen Bedürfnisse von Freiwilligen einzustellen.
Aber auch Kommunen können einen Beitrag zur Förderung leisten, beispielsweise durch die Verbesserung von Rahmenbedingungen, zum Beispiel durch Bereitstellung von Räumen, kostenfreie Fortbildungsangebote, Entwicklung einer Anerkennungskultur, zum Beispiel in Form von Würdigungsveranstaltungen.
Ist "Verein" eigentlich immer gleichbedeutend mit "Ehrenamt"?
Nach unserer Definition unterscheidet man erst einmal nach gemeinschaftlich Aktiven. Das sind Menschen, die in einem Sportverein zum Beispiel Sport treiben oder im Chor mitsingen. Davon zu unterscheiden ist aber freiwilliges Engagement. Das findet immer dann statt, wenn jemand zusätzlich zu der gemeinschaftlichen Aktivität auch noch eine bestimmte Aufgabe übernimmt, also wirklich aktiv wird. Zum Beispiel, weil er die Chorleitung übernimmt, weil er die Chorfahrten organisiert, weil er im Sportverein die Sportveranstaltungen organisiert oder als Übungsleiter aktiv wird.
Also immer dann, wenn Menschen wirklich aktiv Aufgaben auch innerhalb eines Vereins und eines Verbandes oder einer anderen Organisation übernehmen und das freiwillig und unentgeltlich, dann sprechen wir von freiwilligem Engagement.
Knapp 50 Prozent der freiwillig Engagierten engagieren sich im Verein.
94 Prozent der zivilgesellschaftlichen Organisationen sind Vereine, aber Engagement findet zunehmend auch in anderen Organisationsformen statt. Knapp 50 Prozent der freiwillig Engagierten engagieren sich im Verein, viele auch in Kirchgemeinden, in selbstorganisierten Gruppen, im Bereich der Selbsthilfe-Kontaktstellen, in der Nachbarschaftshilfe, Bürgerinitiativen, in Stiftungen, in gemeinnützigen oder gemeinwohlorientierten Genossenschaften. Außerdem nimmt der Bereich des individuellen Engagements in selbst organisierte Gruppen, Initiativen, Helferkreisen – also ganz ohne eine Struktur, die auch Rechtsträgerschaft hat – immer mehr zu.
Das Interview führte Luise Kotulla.
MDR (Luise Kotulla) | Erstmals veröffentlicht am 03.03.2024
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 04. März 2024 | 19:00 Uhr
Ines W. vor 39 Wochen
Schön, dass sich nach wie vor so viele Menschen im Ehrenamt für das Miteinander in der Gesellschaft engagieren.
So ein Ehrenamt kann wenn man es ernst nimmt und eine Führungsaufgabe darin einnimmt durchaus anstrengend sein, weil andere ja von einem erwarten, dass man die Dinge organisiert, egal wie es gerade bei einem beruflich oder privat aussieht.
Danke an alle die sich engagieren!