Koalition im Krisenmodus | Teil 4 Deutschland überfordert mit Ukraine-Geflüchteten

10. September 2022, 05:00 Uhr

In Deutschland wird diskutiert, ob Waffenlieferungen helfen oder den Kampf der Ukraine gegen die Großmacht Russland nur verlängern. Derweil habe ein Teil der mehr als eine Million Geflüchtete Probleme eine Wohnung zu finden und einen Aufenthaltstitel zu bekommen. Auch gibt es immer noch Helfende, die ukrainische Familie bei sich aufgenommen haben und auf staatliche Hilfe warten.

Russland überlegen: drei Mal so viele Einwohner wie die Ukraine

Das größte Land der Welt gegen das größte Land Europas – das ist seit dem 24. Februar die Schlachtaufstellung. Russland: 28 Mal so groß, mit drei Mal so vielen Einwohnern wie die Ukraine. Die Chancen der Ukraine, dem übermächtigen Angreifer standzuhalten, wurden deshalb anfangs als minimal eingeschätzt. Russland wollte einen Blitzkrieg. Schnelle Geländegewinne, die Einnahme der ukrainischen Hauptstadt Kiew und die Neutralisierung der Regierung Selenskyj schienen Fragen weniger Wochen, wenn nicht Tage zu sein. Doch die Ukraine widerstand.

Russischer Dauerangriff statt Blitzkrieg

Heute, mehr als ein halbes Jahr später, ist Russland vom Sieg weit entfernt. Ebenso weit allerdings, wie auch die Ukraine. Alles scheint auf einen Dauerkriegszustand hinauszulaufen. Mit ständigen unvorhersehbaren Angriffen Russlands auf Städte im Osten und Südosten, die das Sicherheitsgefühl der verbliebenen Zivilisten zermürben und die Infrastruktur in Grund und Boden bomben. Mit der Bedrohung einer Atomkatastrophe: Das größte europäische Atomkraftwerk Saporischschja in der Ukraine ist russisch besetzt ist und wird regelmäßig beschossen. Beide Seiten beschuldigen einander dafür. Eine Inspektion der Internationalen Atomenergiebehörde hat die Gefahr bisher um keinen Deut verringern können.

Und es gibt hohe Verluste auf beiden Seiten: "Wenn man circa 60.000 russische Personalausfälle veranschlagt und die an der Ausgangszahl von etwa 180.000 Soldaten misst, die in die Ukraine geschickt wurden, sind die Verluste schon erheblich", sagt Militärexperte Wolfgang Richter von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Die ukrainische Seite nennt eine Zahl von bis zu 100 Soldaten, die täglich sterben.

Deutsche Waffenlieferungen – nach wie vor umstritten

Die Bundesregierung hat bis einschließlich 29. August die Lieferung von Militärhilfe für die Ukraine in Höhe von 724 Millionen Euro bewilligt. Während Unionspolitiker auch die Lieferung schwerer Waffen forderten, zögerte die Ampelregierung lange damit.

Genehmigt wurden schließlich 15 Flakpanzer Gepard und zehn Panzerhaubitzen 2000. Als besonders effektiv lobte Bundeskanzler Scholz das Luftabwehrsystem IRIS T SLM. Damit könnten ganze Städte verteidigt werden. Doch auch in der deutschen Öffentlichkeit bleibt das Thema eine Glaubensfrage: Mehr Waffenhilfe könnte der Ukraine helfen, zu siegen, sagen die einen; sie würden nur den Krieg in die Länge ziehen, kritisieren die anderen. Der Bundeskanzler jedenfalls bleibt dabei: Einen Diktatfrieden Russlands dürfe es nicht geben. Die Bedingungen eines eventuellen Friedensvertrages müsse die Ukraine bestimmen können.

Deutsche Behörden mit ukrainischen Geflüchteten überlastet

Ein Viertel der ukrainischen Bevölkerung, fast alle Frauen mit Kindern – weil Männer unter 60 nicht ausreisen dürfen – ist seit Kriegsbeginn geflüchtet, knapp eine Million Menschen nach Deutschland. Um hier Sozialleistungen beantragen zu können, brauchen sie einen Aufenthaltstitel. Die Ausländerbehörden sind allerdings mit ihren Bearbeitungskapazitäten am Limit. Die Unzufriedenheit auf beiden Seiten wächst, Verfahren dauern oft bis zu zwei Monate. Der Aufenthaltstitel gilt dann in der Regel für ein Jahr mit Verlängerungsoption auf drei Jahre.

Erwerbsfähige Geflüchtete aus der Ukraine und ihre Familien betreut das Jobcenter. Die Bearbeitung läuft wegen Personalmangels auch hier schleppend. Dennoch: Ukrainegeflüchtete haben Anspruch auf Hartz-IV-Leistungen. Laut Regelsatz erhalten alleinstehende Erwachsene 449 Euro. Weil AfD-Politiker offenbar gezielte Falschmeldungen zu Sozialleistungen an Ukraineflüchtlinge verbreiten, macht das Arbeits- und Sozialministerium klar: "Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts erhält nur, wer seinen Lebensunterhalt nicht aus eigenem Einkommen oder Vermögen decken kann. Es gelten insoweit die gleichen Regeln, wie für alle anderen Menschen, die in Deutschland Sozialleistungen beziehen."

Nach einer Ifo-Umfrage suchen 90 Prozent der befragten Ukraineflüchtlinge Arbeit in Deutschland. Die meisten haben, wie in der Ukraine üblich, mehrere Berufsabschlüsse, wären eine willkommene Bereicherung für den hiesigen Arbeitsmarkt. Aber: Viele sprechen Englisch, doch Deutsch ist ein Problem. Wichtig wäre hier laut Deutschem Gewerkschaftsbund ein breiteres Sprachkursangebot mit mehr Berufsbezug. Auch die Anerkennung von Qualifikationen stockt. Ein großer Schatz, der bisher nicht geborgen wird. Denn vielen hochqualifizierten Ukrainerinnen und Ukrainern bleiben bisher nur schlecht bezahlte Aushilfsjobs.

Geflüchtete aus Ukraine enttäuscht

Der Frust steigt auf beiden Seiten. Es mangelt eklatant an staatlicher Hilfe für zehntausende deutsche Familien, die uneigennützig ukrainische Geflüchtete bei sich aufgenommen haben. Kaum eine von ihnen hat bisher Antwort auf Anträge für Mietzuschüsse oder Wohnnebenkosten erhalten. Viele helfen dennoch weiter bei Behördengängen und Schulanmeldungen, bei der Arbeitssuche und vor allem der Suche nach Wohnungen. Trotz der Probleme, die mit den steigenden Energie- und Kraftstoffpreisen auf sie selbst zukommen. Viele Ukraineflüchtlinge sehen laut Umfragen ihre Erwartungen an Deutschland enttäuscht. Tausende haben sich mittlerweile trotz der andauernden Gefahr auf den Weg zurück in ihre Heimat gemacht.

Baustellen-Ampel: Krieg, Krise und Konflikte Noch keine deutsche Regierung nach der Gründung der Bundesrepublik 1949 musste eine solche Krise bewältigen.

Der Angriffskrieg Russland gegen die Ukraine beeinflusst das politische Handeln der Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP auf fast allen Ebenen und stellt die Regierung im Herbst zahlreiche Probleme und schwere Entscheidungen.

Die zentrale Frage: Wie kann man die Belastungen durch die Folgen des Krieges für die Bevölkerung und die Wirtschaft zu begrenzen, dass Deutschland nicht in eine tiefe ökonomische und gesellschaftliche Krise rutscht. Die Parameter sind äußerst ungünstig: Ein Ende des Krieges ist nicht abzusehen. Die Energiepreise explodieren. Die Inflation strebt der 10-Prozent-Grenze zu. Unser Wohlstand ist bedroht. In den nächsten Tagen wollen wir mit unseren Beiträgen die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Baustellen der Regierung vorstellen und die bisher bekannten Lösungsansätze. Die Entwicklung ist allerdings so dynamisch, dass wir sicher den ein oder anderen Beitrag überarbeiten und der aktuellen Lage anpassen müssen.

Die Baustellen-Ampel: Alle Artikel der Serie

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 10. September 2022 | 19:30 Uhr

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