Halle-Attentat – Reportage zum zwanzigsten Prozesstag Der Anschlag – für Jüdinnen und Juden keine Überraschung
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18. November 2020, 06:14 Uhr
Viele Politiker haben den 9. Oktober 2019 als Zäsur eingeschätzt. Ein Anschlag, der den Blick auf die Sicherheitslage verändert habe. Der Antisemitismus sei wieder da. Für Jüdinnen und Juden hingegen war der Antisemitismus nie weg – das wurde in einer Aussage eines Sachverständigen am zwanzigsten Verhandlungstag deutlich.
Es ist eine lange, lange Liste von antisemitischen Gewalttaten, die Benjamin Steinitz im Zeugenstand vorträgt. Bomben- und Brandanschläge auf Synagogen in Deutschland, Messerangriffe und zwei Morde aus den Jahren 1992 und 2002 nennt er. Die Aussage hinter dieser Liste: Antisemitische Straftaten in Deutschland folgten einer Kontinuität. Nach dem Zweiten Weltkrieg habe der Antisemitismus keinesfalls aufgehört zu existieren.
Das Attentat von Halle, vom 9. Oktober 2019, reihe sich in diese Kontinuität der antisemitischen Gewalt ein – und habe die Jüdinnen und Juden in Deutschland deshalb nicht überrascht.
All das sagt der Sachverständige Benjamin Steinitz. Steinitz spricht für den Bundesverband Recherche- & Informationsstelle Antisemitismus (RIAS e.V.) – einer Organisation, die Straftaten erfasst, die sich gegen jüdische Personen oder Einrichtungen richten. RIAS ist auch in Sachsen-Anhalt aktiv; hat Befragungen unter den Mitgliedern der jüdischen Gemeinden im Land durchgeführt:
In Sachsen-Anhalt haben uns im Juli 2019 alle Befragten geschildert, dass alle jüdischen Einrichtungen von antisemitischen Handlungen betroffen waren. Diese reichten von Sachbeschädigungen und Beleidigungen bis hin zu körperlichen Angriffen.
So habe beispielsweise in Halle jemand einem jüdischen Gläubigen aus einem vorbeifahrenden Auto "Kindermörder" zugerufen. Am häufigsten werden laut Steinitz NS-Verbrechen verharmlost.
Statistik zeigt Dimension des Antisemitismus nicht
Die Polizeiliche Kriminalstatistik hat bundesweit einen Anstieg antisemitischer Straftaten verzeichnet. Von 2018 auf 2019 stieg ihre Zahl um 13 Prozent – auf 2.032 Vorfälle. Das Problem: Viele der Betroffenen bringen gar nicht alle antisemitischen Handlungen zur Anzeige; diese gehen nicht in die polizeilichen Statistiken ein.
Steinitz erklärte, die Betroffenen trivialisierten die antisemitischen Vorfälle, um ihren Alltag zu überstehen: "Sie sagen: Wegen dieser Beschimpfung gehe ich nicht zur Polizei." Jüdinnen und Juden in Sachsen-Anhalt verschieben laut Steinitz ihr jüdisches Leben, ihre Kultur, ins Private. Sie vermeiden es, sichtbar zu sein, ziehen sich ins Verborgene zurück.
Vertrauen in die Polizei schwindet
Laut RIAS haben schlechte Erfahrungen, die Jüdinnen und Juden mit der Polizei machen, konkrete Auswirkungen. Steinitz bezieht sich etwa auf eine Dunkelfeldstudie des Landes Nordrhein-Westfalen. Diese habe ergeben, dass 76 Prozent von 1.000 Befragten selbst erlebte antisemitische Vorfälle nicht zur Anzeige gebracht hatten.
Viele geben an, dass sie kein Vertrauen mehr in die Polizei haben.
Die Polizei erkenne, so der Sachverständige, nicht nur die Relevanz der Vorfälle oft nicht – sondern rate sogar aktiv in einigen Fällen davon ab, antisemitische Handlungen anzuzeigen. Als Beispiel nannte Steinitz einen Vorfall in Halle-Neustadt: Zwei Juden waren als "Drecksjuden" beleidigt worden – auf dem Revier habe ein Polizeibeamter die Beleidigung mehrfach wiederholt, aber den antisemitischen Charakter darin nicht erkennen wollen.
Das Wissen über antisemitische Haltungen bei der Polizei wirkt sich fatal auf das Vertrauen in die Polizei aus.
Die Reaktion des Angeklagten
Die jüdischen Betroffenen, die während der Aussage von Steinitz im Saal sind und zuhören, nicken während seiner Aussage immer wieder. Viele von ihnen hatte in ihren eigenen Aussagen schon im September das Verhalten der Polizei kritisiert.
So soll die Polizei die Gläubigen erst nach Stunden evakuiert haben – aber bis dahin keine Informationen weitergegeben haben, wie die Menschen im Inneren noch gefährdet waren oder nicht. An Jom Kippur haben gläubige Jüdinnen und Juden kein Geld, keine Smartphones und auch keine Ausweispapiere bei sich. Bei der Evakuierung selbst hatten die Einsatzkräfte die Menschen daher nummeriert – bei einigen löste das Erinnerungen an KZ-Häftlinge aus.
Im Krankenhaus St. Elisabeth und St. Barbara, wohin die Gläubigen evakuiert worden waren, hatten diese mit Gebeten Jom Kippur zu Ende feiern wollen. Beamte wollten sie beim Gebet unterbrechen. Mitarbeitende des Krankenhauses verhinderten das. Mehrere Überlebende berichteten, die mutmaßlichen Zivilbeamten im Krankenhaus hätten sich nicht als Polizisten ausgewiesen. Einige Überlebende, wie der Gemeindevorsteher Max Privorozki, waren auf das Polizeirevier gebracht worden. Er sagte, nach ihren Aussagen habe die Gruppe nach Hause laufen sollen – in einer Stadt im Ausnahmezustand; einer der Männer war gehbehindert. Hilfe habe die Polizei nicht angeboten.
Anträge, Anträge, Anträge: Keine Unterbrechung des Verfahrens
Zu Beginn des Verhandlungstages hatte es einen für das Verfahren kritischen Moment gegeben: Die Entscheidung über den Aussetzungsantrag der Verteidigung, durch den der Prozess unterbrochen oder gar ganz gestoppt hätte werden können. Die Vorsitzende Richterin lehnte den Antrag ab: Im Verfahren seien keine neuen Tatsachen zutage getreten. Hintergrund: Es geht um die Frage, ob ein Vorfall während der Fluchtfahrt des Angeklagten aus Halle als fahrlässige Körperverletzung oder als versuchter Mord gewertet werden soll.
Am Nachmittag kam es zu einer ähnlichen Situation: Der Verteidiger des Angeklagten, Hans-Dieter Weber erklärte, der Angeklagte lehne den Urheber des psychiatrischen Gutachtens als Befangen ab. Der Angeklagte hatte ausgesagt, er habe "rot gesehen", nachdem er Jana L. erschossen habe. Seine Wahrnehmung sei durch einen roten Schleier getrübt gewesen. Der Sachverständige Dr. Norbert Leygraf hatte diese Beschreibung für sein psychiatrisches Gutachten als irrelevant bewertet und in seiner Aussage vor Gericht gesagt, ein Augenarzt könne dazu mehr sagen.
Leygraf ergänzte seine Aussage noch einmal mündlich. Auf die Frage der Verteidigung, ob es sich beim "Rot sehen" des Angeklagten um eine Migräne mit Aura gehandelt haben könnte, antwortete er: Es sei völlig unwahrscheinlich, dass eine Migräne plötzlich ohne Vorzeichen zu Beginn einer schweren Straftat auftrete – und dabei die eigentlichen Kopfschmerzen ausblieben. Er blieb damit bei seiner grundlegenden Einschätzung: Die bewusste Steuerungsfähigkeit des Angeklagten war nicht beeinträchtigt – er ist voll schuldfähig.
Der Befangenheitsantrag gegen Leygraf wurde abgelehnt. Wäre er angenommen worden, hätte ein neues Gutachten erstellt werden müssen – was den Prozess wohl um Wochen verzögert hätte. Die Verteidigung stellte daraufhin den Antrag, ein zusätzliches Gutachten von einem weiteren Sachverständigen einzuholen. Darüber ist am heutigen Verhandlungstag ist noch nicht entschieden worden.
Letzte Aussagen erwartet
Offen blieb, ob am Mittwoch noch die letzte Aussage eines Sachverständigen im Verfahren erfolgt – durch den Soziologen Matthias Quent vom Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) Jena. Falls er zugelassen wird, wird er zur Vernetzung von Rechtsextremisten auf Imageboards aussagen: Wie verschiedene Attentate weltweit zusammenhängen – auch das Attentat von Halle (Hintergründe zu diesem Punkt können Sie auch in der aktuellen Folge unseres Podcasts "Das Leben danach – Das Attentat von Halle" hören). Nach der Aussage des Sachverständigen wird die Beweisaufnahme voraussichtlich geschlossen. Dann könnten die Schlussplädoyers beginnen – und der Prozess gegen den Halle-Attentäter noch im Dezember zu Ende gehen.
Hintergrund des Gerichtsverfahrens
Seit Juli läuft vor dem Oberlandesgericht Naumburg der Prozess um den Anschlag auf die Synagoge von Halle. Aus Platzgründen wird der Prozess aber in den Räumen des Landgerichts in Magdeburg geführt. Dort steht der größte Gerichtssaal Sachsen-Anhalts zur Verfügung.
Der 28-jährige Stephan B. hatte gestanden, am 9. Oktober 2019 schwer bewaffnet versucht zu haben, die Synagoge von Halle zu stürmen und ein Massaker anzurichten. Darin feierten gerade 52 Menschen den höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur. Der Attentäter scheiterte jedoch an der Tür, erschoss daraufhin eine Passantin, die zufällig an der Synagoge vorbei kam, und später einen jungen Mann in einem Döner-Imbiss.
Stephan B. ist wegen zweifachen Mordes, versuchten Mordes in 68 Fällen, versuchter räuberische Erpressung mit Todesfolge, gefährlicher Körperverletzung, fahrlässiger Körperverletzung und Volksverhetzung angeklagt.
Über den Autor Roland Jäger arbeitet seit 2015 für den Mitteldeutschen Rundfunk - zunächst als Volontär und seit 2017 als Freier Mitarbeiter im Landesfunkhaus Magdeburg. Meist bearbeitet er politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Themen - häufig für die TV-Redaktionen MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE und Exakt - Die Story, auch für den Hörfunk und die Online-Redaktion. Vor seiner Zeit bei MDR SACHSEN-ANHALT hat Roland Jäger bei den Radiosendern Rockland und radioSAW erste journalistische Erfahrungen gesammelt und Europäische Geschichte und Germanistik mit Schwerpunkt Medienlinguistik an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg studiert.
Quelle: MDR/cw
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 17. November 2020 | 19:00 Uhr
Haller am 19.11.2020
Und darum müssen wir bei der Beweiserhebung hier Filmfehler akzeptieren?
Wo eine Beteiligung Dritter ggf. auch schuldhaft ist Gericht und StA zur Aufklärung verpflichtet.
Realist62 am 18.11.2020
Da kann man hier eines schreiben, die REALITÄT IST KEIN HOLLYWOODFILM. Das hat auch das Chaos-Computer-Mitglied in den schon von mir erwähnten Podcast erwähnt( auch wenn es da um die Verschlüsselung geht.
ossi1231 am 18.11.2020
Es muss folgend gearbeitet werden "Den Sack (hier Symbol Polizei) schlägt man, den Esel meint man." da ist unser Problem.
Obwohl zur Ermittlung verpflichtet ist die Beweisaufnahme zur Flucht aus der LuWu mehr als lückenhaft.
Warum wurden Ereignisse in Wiedersdorf überhaupt möglich?
Da fehlt die minutiöse, sekundengenaue (ggf. bis auf die dreißigstel Sekunde) Beweiserhebung.