Der angeklagte Stephan B. (M) wird zu Beginn des 25. Prozesstages in den Saal des Landgerichts geführt.
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Halle-Attentat – Reportage zum zweiundzwanzigsten Prozesstag "The Bullet is still in the Gun – die Patrone steckt immer noch in der Waffe"

01. Dezember 2020, 18:27 Uhr

Am 21. Prozesstag hatte mit der Bundesanwaltschaft die Phase der Schlussplädoyers begonnen. Mit dem 22. Prozesstag am Dienstag bekommt die Nebenklage das Wort. Mehr als zwanzig Anwälte und Anwältinnen halten ein Schlussplädoyer. Viele Betroffene des Anschlags, Überlebende aus der Synagoge oder dem Kiez-Döner, waren wieder zum Landgericht nach Magdeburg gekommen. Zum ersten Mal ist unter ihnen auch die Mutter von Kevin.

Erkan Görgülü, Nebenklageanwalt und Vertreter des Vaters von Kevin S., steht während einer Verhandlungspause des 22. Prozesstages im Landgericht.
Erkan Görgülü, Nebenklageanwalt und Vertreter des Vaters von Kevin S., bezeichnet die Tat während seinem Plädoyer als feige und betont wie gefährlich der Täter für alle ist. Bildrechte: dpa, Max Schörm

Die meisten der Zuschauenden scheinen sie zu Beginn noch nicht bemerkt zu haben. Doch an diesem Tag ist zum ersten Mal die Mutter von Kevin S. im Saal. Sie sitzt in einer der vorderen Reihen für Nebenklägerinnen, Nebenkläger und ihre Begleitung. Ihr Anwalt Christian Eifler hat sich direkt neben sie und nicht auf seinen angestammten Platz gesetzt. Er ist noch bei ihr als die Vorsitzende Richterin die heutige Sitzung eröffnet und ihm das Wort erteilt. Denn heute beginnen die Schlussplädoyers der Nebenklage.

"Sicherlich haben einige bemerkt, dass ich nicht vorne Platz genommen habe," eröffnet er sein Plädoyer. "Warum? Weil es heute meine Mandantin zum ersten Mal seit vier Monaten geschafft hat hierher zu kommen. Meiner Mandantin geht es sehr schlecht. Der Grund dafür sitzt mir gegenüber." Er meint den Angeklagten. Direkt nach ihm tritt Erkan Görgülü an das Stehpult, das unmittelbar vor der Richterbank aufgebaut worden ist. Er vertritt Karsten Lissau, den Vater von Kevin. Wie sein Vorredner schließt auch er sich im Großen und Ganzen der Bundesanwaltschaft an. Allerdings nicht in der Bewertung der Taten gegen Aftax Ibrahim und Ismet Tekin, dazu später mehr.

Worte an den Angeklagten

"Herr Angeklagter, Sie sprechen fortweg von Ihrem Kampf. Ein Kampf setzt ein Gefecht voraus mit gleich gearteten Chancen," spricht Görgülü den Angeklagten direkt an, der aufmerksam, aber mit ablehnender Körperhaltung das Plädoyer verfolgt. "Wen haben Sie hier getötet", fragt der Rechtsanwalt. Jana L. habe der Angeklagte arglistig in den Rücken geschossen. Kevin S., der Sohn seines Mandanten, habe hinter einem Kühlschrank gekauert, ihn angefleht. "Das ist kein Kampf, das ist feige." Der Angeklagte habe nicht nur das Leben der Opfer, sondern auch das Leben seiner Familie und sein Eigenes zerstört.

"Die Voraussetzungen für ein eigenes lebenswertes Leben, die waren da. Bis auf eine Ausnahme waren Sie gesund. Sie haben Abitur gemacht, studiert. Was wollen Sie eigentlich mehr?" Erkan Görgülü zieht einen Vergleich zwischen Kevin S., der mit einer Behinderung geboren und dem nur ein kurzes Leben prognostiziert wurde. Der aber nicht nur entgegen der ärztlichen Einschätzung überlebt, sondern sich durch sein Leben gekämpft – die Schule gemeistert, einen Ausbildungsplatz und gute Freunde gefunden hatte.

"Er war es, er ist es und er macht auch keinen Hehl daraus"

"Das alles hätten Sie auch gekonnt. Stattdessen sitzen Sie im Kinderzimmer, lungern tagelang rum wie Sie selbst gesagt haben und ziehen sich Anime Pornos rein, statt sich mal mit echten Menschen zu beschäftigen." Görgülü verweist den Widerspruch, dass der Angeklagte ja nichts mehr für diesen Staat tun wollte, sich nicht mehr als Teil dessen verstand. "Dieser Staat wird Sie die kommenden Jahre ernähren und er hat sie schon gerettet, nach ihrer Erkrankung." Er verweist auf die vielen jungen Zuschauenden im Saal, die teilweise vom ersten Tag den Prozess verfolgt, vor dem Gericht demonstriert und ihre Solidarität mit den Betroffenen gezeigt haben und die Botschaft, die die Besuchenden der jüdischen Gemeinde vor Gericht ausgesendet haben: "Du kriegst uns nicht klein." 

Sein Plädoyer schließt Görgülü mit der Bitte an den Senat dafür zu sorgen, dass der Angeklagte nicht wieder frei kommt, weil er gefährlich ist: "Er war es, er ist es und er macht auch keinen Hehl daraus." Zum Schluss wiederholt er die letzten Worte von Kevin S., die Worte, die für immer auf dem Video des Attentäters festgehalten sind: "Nein, bitte nicht. Bitte nicht. Nein. Bitte, bitte nicht." Ein stiller Moment im Saal. Kevins Mutter kommen die Tränen. Sie hat ihre Faust auf Höhe der Stirn, die Augen fest zusammengepresst.

Kritik an der Bundesanwaltschaft 

Ein Großteil der heute an das Stehpult tretenden Vertreterinnen und Vertreter der Nebenklage haben ihre Plädoyers aufeinander abgestimmt – Onur Özata, Illil Friedmann, Kristin Pietrzyk, Mark Lupschitz, Dr. Kati Lang oder Gerrit Onken. Sie verweisen darauf, dass der Antisemitismus und Rassismus, der den Angekagten angetrieben hatte, tief verwurzelt in der Gesellschaft sei. "Das haben Menschen, Menschen angetan," zitiert Özata die polnische Schriftstellerin Zofia Nałkowska. Der Angeklagte möge zwar als Einzelner zur Tat geschritten sein. Doch sei er kein Ausgegrenzter, sondern aus "unserem Schoß hervorgegangen." Von der Anklageschrift der Bundesanwaltschaft fühlte sich sein Mandant, Ismet Tekin, im Stich gelassen. 

"Von Anfang an hat die Bundesanwaltschaft alles dafür getan meinen Mandanten aus diesem Verfahren rauszuhalten", sagt Özata in seinem Plädoyer. Denn anders als von Özata verfolgt, spricht die Bundesanwaltschaft im Fall Ismet Tekins nicht von einem versuchten Mord. Kritik, die anschließend Ismet Tekin selbst und Illil Friedmann, als Vertreterin ihres Mandanten Aftax Ibrahim, wiederholt. Der Attentäter hatte ihn auf seiner Flucht angefahren und verletzt. Vor Gericht hatte er ausgesagt, dass er die schwarze Hautfarbe erkannte habe und für eine weiße Person ausgewichen wäre. Die Bundesanwaltschaft wertet dies in ihrer Anklageschrift aber nicht als Mordversuch, sondern ein Verkehrsvergehen und fahrlässige Körperverletzung. "Gerade wer seine eigenen Ziele um jeden Preis verfolgt und damit den Schaden anderer in Kauf nimmt, handelt bedingt vorsätzlich," so Friedmann.

Hintergrund des Gerichtsverfahrens

Seit Juli läuft vor dem Oberlandesgericht Naumburg der Prozess um den Anschlag auf die Synagoge von Halle. Aus Platzgründen wird der Prozess aber in den Räumen des Landgerichts in Magdeburg geführt. Dort steht der größte Gerichtssaal Sachsen-Anhalts zur Verfügung.

Der 28-jährige Stephan B. hatte gestanden, am 9. Oktober 2019 schwer bewaffnet versucht zu haben, die Synagoge von Halle zu stürmen und ein Massaker anzurichten. Darin feierten gerade 52 Menschen den höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur. Der Attentäter scheiterte jedoch an der Tür, erschoss daraufhin eine Passantin, die zufällig an der Synagoge vorbei kam, und später einen jungen Mann in einem Döner-Imbiss.

Stephan B. ist wegen zweifachen Mordes, versuchten Mordes in 68 Fällen, versuchter räuberische Erpressung mit Todesfolge, gefährlicher Körperverletzung, fahrlässiger Körperverletzung und Volksverhetzung angeklagt.

Verneigung vor dem Mut der Betroffenen

Je länger die Plädoyers dauern desto weniger scheint der Angeklagte sie zu verfolgen. Ab und zu schreibt er etwas auf, lehnt sich dafür nach vorn und anschließend zurück, raunt seinem Pflichtverteidiger Hans-Dieter Weber etwas zu. Als Gerrit Onken die ideologische Verbindung zwischen dem Attentäter, der NS-Ideologie und der Neuen Rechten herausarbeitet, muss der Angeklagte lachen. "Wenn Sie das nicht hören wollen, können sie den Saal gerne Verlassen," erwidert Onken kühl. Ganz anders sieht es auf der anderen Seite der Glaswand aus. Gespannt und extrem ruhig verfolgen die Zuschauenden die Worte der Vertreterinnen und Vertreter der Nebenklage. Als Onken sein Plädoyer mit einer Verneigung vor dem Mut der Betroffenen schließt, stehen viele der Zuschauenden im Raum schweigend auf. 

Jeden Tag, jede Minute müssen wir unsere Stimme erheben

Jeremy Borovitz, Überlebender und Rabbiner

Bis auf in den regelmäßigen Lüftungspausen, ist am 22. Prozesstag kaum ein Flüstern und Rascheln im Saal zu hören – anders als in den Wochen zuvor. Die Plädoyers bauen aufeinander auf, fassen die in den vergangenen Wochen immer geäußerte Kritik an der Polizei, den Ermittlungen und der Politik zusammen. Es gibt Lob und Kritik für die Arbeit des Gerichts - auch angesichts von Corona. Es gibt Dank für die Solidarität vor und im Gerichtssaal. Die Anwältinnen und Anwälte heben noch einmal die eindrucksvollen Aussagen vieler Zeuginnen und Zeugen hervor, wiederholen ihre Worte - so wie Antonia von der Behrens. Sie verliest zwei schriftliche Statements vor ihrem Plädoyer. Eines stammt vom Rabbiner Jeremy Borovitz: "Jeden Tag, jede Minute müssen wir (die Gesellschaft) unsere Stimme erheben," schreibt er, um ein weiteres Halle, ein weiteres Hanau zu verhindern.

Antisemismismus und Rassismus sind alltäglich

"Die Tat war möglich in einem gesellschaftlichen Setting in dem Rassismus und Antisemitismus alltagstauglich sind", sagt Dr. Kati Lang. Sie sei möglich gewesen in einem gesellschaftlichen Setting in dem die Betroffenen weiterhin ‘die Anderen’ blieben. Um ihrem Plädoyer zu folgen, reicht ein Blick auf das vergangene Jahr, auf die steigende Zahl antisemitischer, rassistischer Übergriffe. Das Setting ist noch lange nicht überwunden angesicht nachfolgender Attentate Hanau, dem NSU 2.0 und beinahe wöchentlicher Aufdeckungen von rassistischen, antisemitischen und rechtsextremistischen Chats von Polizei und Bundeswehr. Oder wie Kristin Pietrzyk am Ende ihres Plädoyers sagt, die die letzten Worte der Aussage ihrer Mandantin wiederholt: "The Bullet is still in the Gun - die Patrone steckt immer noch in der Waffe". 

Die Plädoyers der Nebenklage sind damit noch nicht beendet. Sie werden am 2. und 8. Dezember fortgesetzt.

Über die Autorin Marie-Kristin Landes ist in Dessau-Roßlau geboren und aufgewachsen. Nach dem Abitur zog es sie für ein Politikstudium erst nach Dresden, dann für den Master Journalistik nach Leipzig. Praktische Erfahrungen sammelte sie bei der Sächsischen Zeitung, dem ZDF-Auslandsstudio Wien und als freie Mitarbeiterin für das Onlineradio detektor.fm. Nach ihrem Volontariat beim Mitteldeutschen Rundfunk arbeitet sie jetzt vor allem für MDR Kultur und das Landesfunkhaus Sachsen-Anhalt. Wenn sie nicht gerade für den MDR unterwegs ist, ist sie am liebsten einfach draußen. Zwischen Meer oder Berge kann sie sich dabei genauso wenig wie zwischen Hund oder Katze entscheiden.

Quelle: MDR/ld,mp,vö

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 01. Dezember 2020 | 19:00 Uhr

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